KAPITEL V I E R

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KAPITEL V I E R

Ich beiße mir auf die Unterlippe und zwinge mich dazu ihn an zusehen. Mein Brustkorb geht schnell hoch und runter. Meine Atmung ist unkontrolliert. Ich zittere immer noch. Doch seine Worte haben die Bilder aus meinem Kopf verbannt. Wenn auch nur für kurze Zeit. Hilflos sehe ich ihn an. Verliere ich auch noch ihn? Das halte ich nicht aus, noch jemanden zu verlieren.

Er starrt den Boden an. Wütend und scheint sich nur langsam zu beruhigen. Auch sein Brustkorb geht schnell auf und ab.

Doch dann ändert sich sein Blick schlagartig und er sieht mich mitleidig an. „Rede mit mir doch, bitte." Sein flehender Blick, seine leise Stimme versetzten meinem Herzen einen Stich. Ich kann nicht. Es-es geht einfach nicht. Ich will es so sehr. Aber es geht nicht.

Mir laufen Tränen die Wange hinunter. Gehe auf ihn zu und nehme ihn in den Arm. Ich weiß, dass ich diese Umarmung gebraucht habe. Und nicht er. Er weiß auch, dass ich diese Umarmung brauche. Seine starken Arme drücken mich an ihn. Ich weine in sein T-Shirt. Am liebsten würde ich ihn gar nicht mehr los lassen. Doch als die Pause ertönt, lass ich ihn los. Nicks T-Shirt ist ganz nass. Ich bin froh kein Make-up zu tragen. Denn ich weiß, dass ich so schon schlimm genug aussehe.

Die Türen öffnen sich und die Schüler stürmen hinaus.

„Und abgeregt, Psycho?",ist die erste Fragen, die mir gestellt wird, als ich und Nick wieder den Raum betreten. Wir haben eine Doppelstunden Biologie. In der wir nun anscheinend verschiedene Syndrome durchnehmen.

Nick hat seine Jacke zugemacht. Somit werden die anderen nur anhand meiner Augen sehen können, dass ich geweint habe.

Die Klasse hat die Tische zu Gruppentischen geschoben. Tyler und Anne sitzen bereits am Tischen. Anne hat sich schräg gegenüber von Tyler gesetzt. Sodass sie möglichst viel Abstand zu ihm hat. Nun ist noch ein Platz gegenüber von ihm und einer neben ihm frei. Also Pest oder Pest. Nick setzt sich automatisch neben Tyler. Also muss ich mich wohl oder übel gegenüber von ihm setzen.

Ich lass mich auf dem Platz neben Anne nieder. Ihr Blick mustert mich neugierig.

Tyler muss lachen: „Hast du geheult?"

Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich wie Nick ihn wütend anstarrt. Mein Blick ist allerdings gesenkt. Mir ist schlecht. Der belustigte Blick von Tyler lässt mich nicht gerade besser fühlen.

„Also, wie machen wir das? Wer schaut nach was nach?",fragt Anne. Dabei kramt sie einen Block aus ihrer Tasche und sucht eine frei Seite. Dann klickt sie auf das Ende ihres Kugelschreibers und sieht einen nach dem anderen abwartend an.

„Mach den Mund zu, es stinkt!",kommentiert Tyler mal wieder.

„Sag mal Junge, was ist eigentlich das scheiß Problem?! Sie hat doch einfach nur was gefragt! Bist du zu inkompetent um dich wie ein normaler Mensch zu verhalten?!",Nick platzt der Kragen.

„Nein?!"

„Dann benehm dich doch mal wie einer! Musst du ständig alle runter machen um dich geil zu fühlen? Weil dann sag ich dir mal was, du machst dich damit nur lächerlich! Nicht jeder kann einen deiner dummen Kommentare einfach so weg stecken! Es gibt Leute die du damit kränkst! Also sei leise, oder ich finde einen Punkt an dem es dir richtig weh tun wird!"

Tyler zieht die Augenbrauen hoch. Sein Grinsen ist provokant. Ich kann mir nicht vorstelle, dass er schon oft die Stirn geboten bekommen hat. „Tja da kannst du lange suchen. Aber deinen Wunden-Punkt kenne ich bereits. Also wäre ich an deiner Stelle vorsichtig!"

Herr Rot läuft im Klassenraum durch die Gegend und schlendert zu unserem Tisch.

„Michelle, kann ich dich bitte mal sprechen?"

Ohne eine Reaktion meiner Seite abzuwarten dreht er sich um und läuft Richtung Tür. Unfreiwillig stehe ich auf und laufe ihm hinterher.

Als ich vor die Tür trete und die Tür hinter mir schließe, beginnt er auch schon zu reden: „Michelle, ich habe dich gestern zu Dr. Fritscher gehen sehen. Zudem ist mir aufgefallen, dass du sehr ruhig bist. Ich wüsste gerne, woran das liegt. Mir ist das schon gestern aufgefallen. Ich möchte das nur wissen, damit ich weiß wie ich dich mündlich bewerten soll." Der Lehrer ist mir jetzt schon nicht mehr ganz geheuer. Was geht ihn das an?! Es geht ihn nichts an. Ich bleibe stumm.

„Ich möchte nur, dass du am Ende eine faire Note bekommst..." Ich bin seit Montag an dieser Schule und er möchte mich jetzt, am Donnerstag, schon in eine Schublade stecken? Er kann das doch gar nicht beurteilen. Er hat mich zwei Mal gesehen. Ein normaler Lehrer würde denken, dass ich sehr schüchtern bin und einfach Zeit brauche mich ein zu gewöhnen. Ist es, weil er mich zu Dr. Fritscher gehen sehen hat? Weil das geht ihn nichts an. Vielleicht kann er ja nicht schlafen, wenn er nicht hinter dieses ach so mysteriöse Geheimnis kommt.

Von drinnen werden die Stimmen lauter. Nein, eigentlich wird schon geschrien. Herr Rot seufzt. Greift über meine Schulter den Türgriff. Steht mir einen Moment definitiv  zu nahe. Öffnet dann ruckartig die Tür und geht an mir vorbei in den Klassenraum. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Mir läuft eine Schauer über den Rücken. Ich muss einen Brechreiz unterdrücken.

Dann drehe ich mich um und blicke in den Klassenraum. Ich erschrecke mich sofort. Da liegt ein Junge bewusstlos am Boden. Unter seinem Kopf bildet sich eine Blutlache. Und dann wandert mein Blick zu dem Jungen, der von Jackson und Alex zurückgehalten wird und dabei versucht aus deren Griffen zu entkommen. Die Mitschüler haben sich in einer Traube um das Geschehen versammelt. Die meisten sehen entsetzt aus. Und lachen tut keiner. Der einzige der schreit ist Nick.

„Das sagst du nicht noch einmal! Du Wichser! Halt dich aus unserem Leben raus!"

„Nick, komm runter!",schreit Alex, während Nick immer noch tobt und den bewusstlosen Tyler anschreit.

In mir kommt die Wut hoch. Wir alle haben geschworen Gewalt in der Vergangenheit zulassen. In unserem alten Leben. Nick reißt die ganzen Wunden wieder auf. Die bei den meisten von uns nicht mal richtig verheilt sind. Mit seiner Gewalt macht er diese Wunde nur noch größer.

Meine Hand ballt sich zu einer Faust.

„Nick!"schrei ich. Alle zucken zusammen. Selbst ich bin überrascht. Nick starrt mich entsetzt an. Dann schaut er Tyler an. Und dann seine Hände. Diese beginnen zu zittern. Um dies zu verbergen ballt er sie zu Fäusten.

Vierlinge Survival (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt