KAPITEL Z W E I U N D Z W A N Z I G
Wenn ich irgendwann einmal am Sterbebett lieg. Möchte ich sagen, dieser Weg war das Ziel.
Ich öffne meine Augen. Atme tief ein und aus. Der Wald. Die roten Blätter. Alles liegt noch vor mir. Ich stehe angespannt auf dem Schotterweg. Habe eine Abwehrhaltung eingenommen und starre den Wald an. Was war mit mir los? Ich habe mir das doch nicht eingebildet? Wie?
„Hey? Alles okay, bei dir? Das war nur ein Tier. Alles ist gut...Jetzt schau nicht so, als würde dich jeden Moment ein Serienkiller angreifen wollen." Ich-Ich habe mir das nur eingebildet?! Wie? Es hat sich so verdammt echt angefühlt. Ich blinzel um wirklich fest zu stellen, dass ich hier in der Realität bin. Ich kneife mich.
Ich bin so perplex, dass ich ihm einfach den Rücken zu drehe und Richtung Stadt gehen. Ich höre noch wie er mir hinterher ruft. Aber nachlaufen tut er mir nicht. Drehe ich jetzt völlig durch? Wie kann ich mir das so echt eingebildet haben? Ich bekomme Angst. Was ist, wenn ich mir auch nur einbilde hier zu sein. Aber im Grunde bin ich noch bei diesen Leuten. Oder was ist, wenn ich nie bei diesen Leuten war? Wenn ich eigentlich im Koma liege, vielleicht wegen einer Alkoholvergiftung. Die Party war heftig gewesen. Was ist, wenn ich eigentlich in einem Krankenhaus liege. Meine Familie hofft, dass ich aufwache. Oder ich vielleicht so träume. Vielleicht liege ich ja auch gar nicht im Koma. Vielleicht leben Mama und Paul noch. Vielleicht ist Papa auch kein Alkoholiker. Vielleicht ist unser Haus nicht abgebrannt. Vielleicht hat Papa nie Drogenprobleme gehabt. Vielleicht bin ich überhaupt nicht schwanger. Woher weiß ich, ob das alles hier real ist? Wie soll ich aufwachen? Kann ich überhaupt aufwachen? Oder ist all das hier die bittere Wahrheit?
Ich werde jedenfalls nicht darauf hoffen aufwachen zu können. Es wäre schön, keine Frage. Aber wenn ich nicht träume, wenn das hier wirklich die Realität ist, dann würde ich nur mein Leben wegschmeißen. Und auch wenn es mir jetzt schwer fällt nach vorne zu schauen, so muss ich es wenigstens versuchen. Sollte ich doch aufwachen, dann ist es um so besser.
Als ich im Waisenhaus ankomme ist Marion schon wieder da. Sie räumt den Einkauf in den Kühlschrank. „Michelle, warte bitte mal." Ich habe keine Lust auf sie. Also laufe ich weiter. Sie ist nicht meine Mutter. Sie hat kein Recht über mich zu bestimmen oder irgendeine Entscheidung über mein Leben zu treffen. Also bin ich auch nicht verpflichtet ihren Anweisungen zu folgen. Ich will nicht in diesem Waisenhaus leben. Also kann sie mir auch nicht damit drohen, dass sie mich rausschmeißt.
„Michelle! Warte bitte!" Leck mich am Arsch, Frau! „Michelle!",schreit sie nun durchs gesamte Haus. Und als ich auch nicht darauf reagiere, stampft sie mir wütend hinterher. „Junge Frau. Ich habe ja Verständnis dafür, dass du alleine sein möchtest. Dieser Unfall scheint dich mehr mitgenommen zu haben als alle annehmen. Und das ist auch okay. Ich habe dafür Verständnis. Aber dennoch musst du mich nicht ignorieren. Ich möchte lediglich mit dir sprechen. Und auch wenn ich für deine Situation Verständnis habe, heißt es nicht, dass du tun und lassen kannst, was du willst. Und das nächste Mal hat das auch für dich Konsequenzen. Ich weiß, dass dir deine Brüder sehr wichtig sind. Und deshalb würde ich an deiner Stelle aufpassen, was du dir erlaubst. Ansonsten kann es sein, dass ich dir ein Verbot erteil, dass du deine Brüder nicht mehr sehen darfst. Und mir ist es egal, dass Doktor Fritscher es nicht für ratsam hält, euch den Kontakt zu verbieten. Denn ich mache hier immer noch die Regeln. Und nicht sie!" Ich bleibe stehen und drehe mich um. Sehe der Frau ins Gesicht. Ihre Glatze glänzt. Ihre Augen funkeln. Sie sieht mich streng an. Ich sehe sie an, drehe mich dann wieder um und gehe in das Zimmer in dem ich schlafe. Und knalle hinter mir die Tür zu.
„Okay, Michelle! Du wolltest es nicht anders. Ich lasse mich nicht so respektlos behandeln! Du hast Kontaktverbot zu deinen Brüdern! Du verlässt dieses Haus nicht außer für die Schule! Deine Brüder dürfe dieses Haus nicht betreten! Und das Internet stelle ich aus ab. Da werden sich die Mädels sich bei dir beschweren."
Diese Frau ist doch echt unglaublich! Meint sie sie wäre mein einziges Problem? „Es ist nur zu deinem besten. Damit du Mal lernst wie man mit anderen Leuten umgeht und was Respekt ist." Was habe ich ihr getan? Das einzige ist, dass ich sie ignoriert habe. Aber ist das so unverständlich? Es ist nicht so, dass ich gerade gedacht habe, dass ich erneut entführt werde. Es ist nicht so, dass ich schwanger bin. Es ist nicht so, dass mein Vater in einer Psychiatrie eingewiesen wurde. Es ist nicht so, dass mein Bruder und meine Mutter gestorben sind. Es ist nicht so, dass ich vergewaltigt wurde. Alles was wichtig ist, ist ihr den Respekt aufzuweisen, den sie angeblich verdient hat. Aber wenn sie ihren Job mal richtig machen würde, dann wüsste sie viel mehr über die Mädchen hier im Waisenhaus. Vielleicht wüsste sie auch, was mit mir los ist.
Wie gerne würde ich sie anschreien. Ihr meine Meinung sagen. Aber es geht nicht. Ich explodiere fast vor Wut und ich kann sie nicht preisgeben. Ich höre wie sie sich von der Tür entfernt und die Treppe hinunter geht. Ich lasse meine Schultern hängen. In meine Augen sammeln sich Tränen. Ich fühle mich alleine. Und das obwohl in mir ein Kind heranwächst. Was soll ich machen? Soll ich es abtreiben? Aber hat es nicht auch ein Leben verdient? Früher habe ich den Kopf geschüttelt. Mir gedacht, dass das Kind ja eigentlich noch gar nicht lebt. Es denkt noch nur und es fühlt auch nichts. Also bekommt es auch nicht mit ob es stirbt. Auch wenn ich jetzt noch so ähnlich denke, denke ich jetzt weiter. Denn dieses Kind könnte eine tolle Zukunft haben. Es könnte wirklich leben und ich würde es die Chance dazu nehmen. Ich würde jemandem die Chance nehmen zu leben. Kann ich das? Kann ich einem unschuldigem Kind die Chance nehmen zu leben? Aber ich könnte dem Kind nichts bieten. Und ich will nicht wissen, wie es ist, wenn es herausfindet, wie es entstanden ist. Was soll das Kind denken? Ich würde mich ungewollt fühlen. Ich würde mich glaube ich in meiner eigenen Haut ekeln. Aber ich kann mich nicht in das Kind hineinversetzten. Vielleicht ist es für es gar nicht schlimm und hat einmal ein tolles Leben.
Aber wie soll es ein tolles Leben haben, wenn ich dem Kind nichts bieten kann? Wie soll ich selbst weiter leben? Ich könnte doch nicht mal meinen Abschluss fertig machen, oder? Ich müsste das Jahr wiederholen. Oder ich hätte gar keinen Abschluss.
Erschöpft lasse ich mich auf das Bett fallen. Es ist die Hölle hier. Ich fühle mich hier eingesperrt. Hier ist es nicht besser als bei diesen Leuten! Ich bin gefangen in meinem eigenem Leben. Stumm weine ich vor mich hin. Wie so oft in letzter Zeit. Immer wieder.
Liebe Mama,
ich vermisse dich. Ich brauche dich. Das Leben wir mir einfach zu viel. Manchmal wünsche ich mir einfach nur zu dir zu kommen zu können. Mir die Seele aus dem Leib heulen. Mit dir diesen leckeren Erdbeer-Tee trinken zu können und einfach mal quatschen zu können. So wie wir es immer gemacht haben. Ich hoffe, dass du wenigstens mit Paul da oben sitzt und diesen Tee trinkst. Und dass ihr zwei uns beobachtet und genauso hofft, dass es bald besser wird. Dass ihr vielleicht sogar schaut, dass uns weniger Unglück geschieht. Denn ich kann das nicht länger ertragen! Ich kann nicht so weiter machen. Ich verkrafte nicht noch ein Unglück. Ich weiß jetzt schon nicht, was ich tun soll. Oh Mama ich vermisse euch so sehr. Wieso könnt ihr nicht hier sein? Wieso musste uns das alles passieren? Warum müsst ihr tot sein? Ich brauche euch. Finn braucht euch. Lennard braucht euch. Luis braucht euch. Kira braucht euch. Papa braucht euch. Ohne euch ist es nicht das Gleiche. Ohne euch will ich nicht mehr weiter machen. Ich vermisse euch einfach zu sehr. Ihr fehlt mir so unglaublich. Jedes Mal wenn ich an euch denke, dann habe ich so ein ziehen in der Brust. Und es tut so verdammt noch mal weh. Ich vermisse es mit dir den Erdbeer-Tee zu trinken. Ich vermisse es mit Paul Quatsch zu machen. Ich vermisse die Filmabende zu acht. Das Frühstück zu acht. Den Trubel der zuhause immer geherrscht hat. Die Spiele-Nachmittage an einem verregnetem Tag. Die Skiurlaube in den Bergen. Die Sommerurlaube im Zelt. Ich vermisse sogar deinen Tick zur Perfektion. Ich vermisse Pauls neumalkluge Art. Seine stinke Socken. Seine verschwitzten Klamotten die immer überall rumgelegen haben. Ja, ich vermisse sogar sein Schnarchen, welches mich so oft verrückt gemacht hat.
Ich vermisse einfach alles an euch. Weil ich euch so sehr vermisse. Und ich nicht mehr weiß, was ich machen soll. Ohne euch ist nichts mehr wie es einmal war. Mit euch wäre es vielleicht möglich gewesen wieder in die Normalität zurück zukehren, aber ohne euch scheint es unmöglich.
Ich hab dich lieb.
Mila
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Vierlinge Survival (2)
Jugendliteratur!!komplette Geschichte wird überarbeitet. Dies wird nicht der zweite Teil der Vierlinge bleiben!! Michelle Schmitz hat die Hoffnung aufgegeben, dass sie das Vergangene ignorieren kann und einfach neu Starten kann. Sie und ihrer drei Brüder versuche...