SITZUNG S I E B E N

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SITZUNG S I E B E N

„Wie geht es dir heute?" Dr. Fritscher überschlägt ihre Beine, faltet ihre Hände ineinander und legt sie dann auf ihre Beine. Ihre Haare hat sie heute offen. Sie gehen ihr ungefähr bis zur Brust. Um ihren Hals hängt mal wieder die Kette mit dem »B«. Sie schaut das Mädchen ihr gegenüber an. Wie sie dort sitzt. Völlig fertig. Müde. Ohne irgendwelche Kraft, die ihr Hilft das weiter durchzustehen.

„Können Sie sich das nicht denken?", murmelt sie kraftlos. Eigentlich hat sie vorgehabt stärker und wütender zu klingen. Aber sie klingt einfach nur müde, kraftlos und willenlos.

Die Psychologin sieht das Mädchen an. Welches in dem zu großen Pully untergeht. Sie seufzt und weiß, dass die Frage überflüssig war. Es ist nur Gewohnheit so die Sitzung anzufangen. Genauso wie sie sich es angewöhnt hat in fast jedem Satz den Namen ihrer Patienten zu sagen. Einfach aus dem Grund, weil sie denkt, dass ihre Patienten  sich dann angesprochener fühlen. Und sie hofft somit mehr Vertrauen aufzubauen. „Ich habe gehört, dass du und ein paar andere Mädchen gestern auf eine Party gegangen seid. Wieso Michelle?"

Als Michelle von Tyler heimgebracht worden war, hat Marion schon vor der Tür gewartet. Sie ist nicht sonderlich erfreut gewesen, dass Michelle ohne Mona und Mila unterwegs war. Tyler hat sie sofort nach Hause geschickt. Und Michelle hat sie Hausarrest erteilt. Für eine Woche. In dieser Zeit darf sie nur zur Schule und zur Psychologin. In der Zeit ist Besuch untersagt. Und sie haben mit Einschränkungen zurechnen.

Traurig sieht Michelle zu Boden. Beißt sich auf die Lippe.  „Hör mal, ich habe mit Marion geredet. Ich habe ihr gesagt, dass ich es nicht für richtig halte, dir den Kontakt zu deinen Brüdern zu verbieten. Ich habe ihr gesagt, dass ihr einander braucht um das zu verarbeiten. Natürlich habe ich nichts aus eurer Vergangenheit erwähnt. Aber vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn sie Bescheid wüsste. Ich meine nur, wenn du wirklich schwanger sein solltest, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie die ganze Geschichte wüsste und nicht irgendwas sagt...ich-weißt du worauf ich hinaus will?" Dr. Fritscher ist sich bewusst, dass es Michelles Sache ist, wem sie von ihrer Vergangenheit erzählt. Und sie macht sich nicht sonderlich viel Hoffnung, dass sie es Marion erzählt. Denn Michelle redet schon kaum mit ihrer Familie, warum sollte sie sich dann jemandem öffnen, den sie seit einem Tag kennt. Jemandem dem sie überhaupt nicht vertraut.

Als ihr Michelle nicht antwortet fährt sie fort: „Naja, jedenfalls ist sie auch der Meinung, dass ihr euch jetzt braucht. Und deshalb wird sie in der Hinsicht nicht so streng sein. Es kommt schließlich noch dazu, dass es dein erster Tag war. Und sie denkt auch, dass dich die zwei Mädchen unter Druck gesetzt haben. Du darfst deshalb deine Brüder treffen. Allerdings möchte sie dir dafür eine andere kleine Strafe geben. Aber das klärt ihr besser nachher zuhause."

»Was hast du dir dabei gedacht?«, Nick hat mich grob am Oberarm gepackt. Ich habe mein Gesicht verzogen. Daraufhin hat er mich sofort los gelassen und mich mitleidig angesehen. »Das könnte ich dich auch fragen!« »Es geht aber nicht um mich! Es geht um uns! Es geht darum, dass du es dir eigenhändig verbockt hast.« »Wenigstens nehme ich kein Drogen! Ich versteh dich nicht! Echt nicht! Nach allem was passiert ist. Nach allem, was wir diesen Scheißdingern verdanken. Wie kannst du es jetzt noch nehmen?! Willst du wie Papa werden?! Ist es-« »Drogen?«, hat sich Jackson eingemischt.

»Ja Drogen! Nick nimmt Drogen!«, ist es mir nur so herausgeplatzt. »Seit wann?«, hat Alex völlig fassungslos gefragt. »Das war eine einmalige Sache...« Er hat mich wütend gemacht. Ich habe meine Hände zu Fäusten geballt und wollte ihm eine Backpfeife geben. Aber Alex hat mich zurück gehalten und mich nur warnend angesehen. »Lüg nicht!«, habe ich geschrien. Ich kam nicht klar, dass er uns das wirklich antun wollte.»Lüg doch nicht...«, habe ich dann ein zweites Mal weinend gesagt. In meinem Hals hat sich ein dicker Klos gebildet.

„Ist sonst alles okay, Michelle? Hast du eigentlich einen Schwangerschaftstest gemacht?"

Michelle kommen die Tränen hoch. Ihr schwirren die gesamte Zeit so viele Dinge durch den Kopf. Nicht alle davon hängen mit der Schwangerschaft zusammen. Und die die es tun, sind immer wieder dieselben.  Es ist immer wieder dieselbe Frage. Kann ich abtreiben? Michelle weiß nicht, ob sie mit Dr. Fritscher darüber sprechen soll. Doch dann entschließt sie sich.

„Ja, habe ich...", dann fängt sie bitterlich an zu weinen. Und dann ist der Psychologin klar, was heraus kam. Sie schweigt und sieht Michelle beim weinen zu. Sie weiß nicht genau, was sie sagen soll und lässt Michelle sich erst einmal beruhigen. Doch dann überkommt sie das Mitleid und sie steht auf und geht auf sie zu. Setzt sich auf die Lehne des Sessels und nimmt Michelle in den Arm. Streichelt ihr behutsam über den Rücken und leidet mit ihr. Der Fall der Familie Schmitz geht ihr selbst unter die Haut. Sie hat so ein Mitleid mit dieser Familie. Und alles was sie kann ist für sie da sein. Mehr kann sie nicht machen. Noch nie hat sie so sehr ein Fall mitgenommen. Vielleicht liegt es daran, dass sie das erste Mal mit diesem Problem belagert wird. Sonst kommen Kinder und auch Erwachsene die entweder eine geliebte Person verloren haben oder gemobbt werden. Aber es war noch keiner dabei, der entführt und vergewaltigt wurde. Und auch noch keiner, die so viel erlebt hat.

Michelle verkrampft erst, doch dann gibt sie es auf. Ihr tut diese Umarmung gut. Und keiner der beiden weiß wirklich, wie sehr Michelle das gebraucht hat.

„Danke", murmelt Michelle kaum hörbar. Doch Dr. Fritscher hat es gehört und sie kann sich kein Lächeln verkneifen. Michelle schließt die Augen.

Es klopft an der Tür. Die Psychologin lässt Michelle los und öffnet die Tür. Es ist Samantha. Michelles große Schwester. Sie lächelt matt.

„Ich wollte Michelle heim bringen. Bin ich zu früh?"

„Nein, nein. Ich denke, dass wir die Sitzung für heute beenden." Sie wendet sich an Michelle. Die bereits aufgestanden ist und sich mit dem Ärmel ihres Pullis die Tränen aus dem Gesicht wischt. „Allerdings würde ich es gut finden, wenn du morgen noch mal nach der Schule kommen würdest."

Michelle nickt und verlässt dann den Raum.

Vierlinge Survival (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt