KAPITEL D R E I U N D Z W A N Z I G

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KAPITEL D R E I U N D Z W A N Z I G

„Michelle, dein Bruder..." Mona drückt mir den Hörer in die Hand. Sie schenkt mir keine große Beachtung. Vielleicht hat sie gemerkt, dass ich sie nicht wirklich leiden kann. Keine Ahnung. Jedenfalls bedenkt sie mich immer wenn sie mich sieht mit einem vorwurfsvollen Blick. Oder sie schaut mich gar nicht an. Mona ist für mich eingebildet, zickig, oberflächlich und falsch. Ich weiß nicht ob die Freundschaft mit Mila echt ist oder einfach nur gut gespielt.

„Komm bitte raus...", mit diesen Worten legt Jackson auf. Die drei sehe ich nur noch in der Schule, zu der ich seit zwei Wochen wieder gehe. Marion und mein Verhältnis hat sich in diesen zwei Wochen nicht wirklich verbessert. Ich gehe ihr besten Falls aus dem Weg oder schenke ihr keine Achtung. Sie ist wahrscheinlich der Ansicht, dass sie mir durch die Verbote und Strafen einen Gefallen tut, aber das ist nicht so. Sie macht alles nur noch schlimmer.

In diesen zwei Wochen bin ich normal, wie man in diesem Fall normal auch verstehen mag, wieder zu Schule gegangen und habe mich nach der Schule auf das Zimmer verkrochen. Manchmal hat eine der Mädchen versucht mich zu irgendetwas zu motivieren, aber sie hatten keine Chance. Ich habe komplett auf taub gestellt und selbst manchmal meine Brüder nicht wahr genommen. Oft lag ich einfach nur auf dem Bett und habe nachgedacht. Darüber, dass in mir ein Wesen heranwächst und ich immer noch nicht weiß, ob ich es abtreiben soll oder nicht. Ich habe angefangen, die ganzen Ereignisse richtig zu realisieren. Dass meine Mutter tot ist. Paul tot ist. Mein Vater in einer Psychiatrie eingewiesen wurde. Dass in mir ein Kind heranwächst. Dass ich stumm bin. Dass wir einen Autounfall hatten. Dass Sam ein gebrochenes Bein hat, obwohl das wohl noch das geringste Übel ist. Dass wir in einem Waisenhaus leben und ich ganz alleine bin. Dass mein altes Leben vorbei ist und ich ein neues starten muss. Dass ich wirklich alles gebe um diesen Neustart zu versauen und mir Chancen verbaue. All das habe ich begonnen wirklich zu realisieren. Und je mehr mir diese ganzen Sachen klar wurden, je mehr bin ich in ein schwarzes Loch gefallen. Und ich warte immer noch auf den schmerzhaften Aufprall. Momentan habe ich das Gefühl mich in einem freien unendlichen Fall zu befinden. Es gibt nur einen Weg. Den Weg nach unten.

Müde stehe ich von meinem Bett auf und schmeiße das Telefon auf die Matratze. Ziehe mir eine Jacke an und schleiche dann nach unten. Die Mädchen und Marion sitzen auf der Couch und schauen einen Film. Ihre Blicke schnellen alle zu mir, als ich die Treppe unten ankomme. Ohne auf sie zu achten gehe ich zur Tür.

„Wo willst du hin, Michelle?" Marions Stimme erfüllt den Raum. „Du hast Hausarrest! Schon vergessen?"

Ich hadere einen Moment. Ist es mir wirklich Wert rauszugehen. Es sind immerhin nur fünfzehn Grad draußen und ich habe keine Lust auf noch mehr Stress mit Marion. Ist es mir Wert für meine Brüder eine weitere Strafe zu kassieren? Ja!

Ohne auf Marions Worte zu reagieren drücke ich die Klinke hinunter und gehe hinaus. „Michelle!",schreit sie wütend, „komm sofort wieder rein!" Ich höre nicht auf sie. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. „Was soll ich dir noch alles nehmen? Soll ich dich einsperren? Du zwingst mich echt dazu bald noch härtere Mittel einzusetzen!"

Mein Herz rutscht mir in die Hose, als sie sagt, dass sie mich einsperren will. Mir laufen Tränen aus den Augen. Wo sind diese Idioten jetzt? Wofür bin ich rausgekommen, wenn sie überhaupt nicht hier sind.

Ich sehe Jackson an einem Auto lehnen. Er hat ein schuldbewusstes Gesicht aufgesetzt. Zielstrebig laufe ich auf ihn zu. Hinter mir höre ich Marion noch dumpf reden. Sie schimpft und regt sich über mich auf. Ich weiß, dass sie mir hinterher läuft. Aber sie wird mich nicht aufhalten. Nun sehe ich auch Alex. Er sitzt in dem Auto auf der Beifahrerseite. Auf dem Fahrersitzt sitzt ein Mann. Der Mann, den ich mir letztens eingebildet habe. Der Mann der mich entführen wollte!

Panik! Alles was ich verspüre, ist pure Panik. Meine Beine beginnen zu zittern. Ich will wegrennen, aber ich kann nicht. Ich laufe weiterhin auf Jackson und das Auto zu. Als würde es mich wie einen Magneten anziehen. „Es tut mir leid...", murmelt Jackson als ich bei ihm ankomme. Und da sehe ich, was Alex in der Hand hält. Oh mein Gott!

„Michelle! Was ist los?" Ich starre die Tür an. Ich weine. Ich stehe immer noch im Haus und hadere mit mir ob ich wirklich rausgehen soll. Meine Knie sind weich. Nur ein Traum! Nur Einbildung! Nicht Real! Plötzlich fühle ich mich unglaublich eingeengt. Als würde ich zerquetscht werden. Als würde mir jemand die Luftröhre zudrücken. Luft! Ich brauche Luft! Hektisch reise ich die Tür auf und stolpere hinaus in die kühle frische Luft.

„Bleibst du wohl hier!",brüllt Marion. Auf der anderen Straßenseite stehen Nick, Alex und Jackson. Alle drei sehe mich irgendwie komisch an. Mir wird schwindelig. Nick kommt auf mich zu: „Hey...hey, alles okay? Nur langsam..." Ich versuche an etwas Halt zu finden. Meine Umgebung ist dumpf und verschwommen. Meine Knie sind weich und ich suche vergebens nach Halt. Als mich Nick erreicht stütze ich mich an ihm ab. Er nimmt meinen Oberarm und hält mich fest. „Was ist los?"

Mir fällt das atmen schwer. Alles erdrückt mich irgendwie. Und dann wird alles schwarz. Mein Knie geben nach und ich bin völlig weg.

Manchmal, da fallen wir. Manchmal, da fühlen wir uns unnütz. Manchmal, da scheint alles aussichtslos. Aber es gibt Momente, für die lohnt es sich zu Leben. Es gibt Augenblicke, die bestimmen unser Leben. Die machen unser Leben aus. Die unterscheiden unsere Leben voneinander. Es sind nicht die großen Augenblicke, die uns ausmachen. Sondern die kleinen. Jede noch so kleine Entscheidung. Jede kleine Tat. Jedes einzelne Kapitel in unserer Geschichte schreiben wir selbst. Wir sind der Autor einer Geschichte. Wir haben die Chancen sie zu bestimmen. Unsere Entscheidungen sind unsere Stifte und das Papier ist das, was uns schon gegeben ist. Bei den einen ist das Papier neu. Bei den anderen alt. Bei den anderen wurde Kaffe verschüttet und das Papier ist wellig. Bei den anderen ist es glatt. Aber bei jedem endet einmal das Blatt.


Vierlinge Survival (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt