KAPITEL D R E I

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KAPITEL D R E I

Seit Montag gehe ich auf diese Schule, heute ist Donnerstag, und ich habe das Gefühl mich nie in dieser Gesellschaft anpassen zu können. Alles was ich möchte ist normal weiter leben. Das was vor Monaten passiert ist einfach vergessen. Doch immer wieder kommen mir Bilder in den Kopf. Immer wieder muss ich mit mir selbst kämpfen nicht sofort in Tränen auszubrechen. Und dann sehe ich die Blicke der anderen. Die Blicke die mir sagen: »Du wirst nie zu uns gehören. Geh einfach wieder Psycho.« Und sie haben recht. Ich bin ein einziges Frack. Ich gehe zur Schulpsychologin. Die eigentlich gar keine Schulpsychologin ist, sondern normale Psychologin, die den Raum zu günstigem Preise erworben hat.

Und dann kommen noch die Blicke meiner Familie hinzu. Die von Papa, die mich nur flüchtig treffen. Aber wenn er mich dann mal ansieht, dann wird sein Blick ganz versteinert. Sein Blick geht an mir herunter und das ist meistens der Moment in dem ich weiter gehe und mich nicht weiter mustern lasse. Die Blicke von Alex. Eine komische Mischung aus Mitleid und Ignoranz. Er versucht mir so gut es geht aus dem Weg zu gehen. Dann die Blicke von Jackson. Sie sagen mir das er besorgt ist. Diese Blicke sind dann aber auch schon alles. Weil er einfach nicht den Mut hat den Mund mal aufzumachen.

Und dann gibt es da noch Nick. Sein mitleidiger Blick geht mir irgendwie auf die Nerven. Wirklich jedes Mal wenn er mich ansieht, hat er diesen Blick drauf. Und jedes Mal fühle ich mich klein, schwach, gebrechlich und hoffnungslos verloren. Keiner versucht mich auf zubauen. Ihn scheint es egal zu sein, wie sehr sie mich mit ihren Blicken kränken. Oder sie merken es einfach nicht.

„Ich wäre gerne seine Schwester...",seufzt ein Mädchen und sieht Nick mit schmachten Augen an. Mein Blick wandert zu ihr. Ertappt sieht sie mich an. Sie wird rot und zerrt dann ihre Freundin um die Ecke. Ich würde gerne tauschen. Alles ist mir lieber, aber ich möchte das diese elendigen Schmerzen endlich aufhören. Es tut so verdammt weh. Und es ist mir peinlich.

Wir laufen gerade den Flur entlang und stoppen vor dem Klassenraum. Ich möchte nach Hause in mein Bett.

„So meine Damen und Herren. Ich habe ein neues Thema und denke, dass ihr jeder ein Unterthema bearbeiten werdet. In Gruppenarbeit. Das heißt, ich werde euch jetzt in Gruppen einteilen und ihr bekommt dann zwei Wochen Zeit dieses Thema, welches ihr zugeteilt bekommt, zuhause ausarbeiten werdet und es dann vorstellen werdet."

Einige der Leute in der Klasse freuen sich. Machen Plänen wer mit wem zusammen arbeiten wird. Andere sind weniger davon begeistert. Dazu gehöre ich. Wieso müssen wir das jetzt machen? Ich werde sicherlich nicht vor der Klasse vortragen! Geschweige denn mit irgendwelchen komischen Leuten zusammen arbeiten.

„Samantha, Ina, Alex und Mike. Ihr werdet das Thema Parinaud-Syndrom erarbeiten. Sie können nun in die Gruppen gehen und sich unter einander absprechen.

Jackson, Tyler, Mia und Sam ihr Thema ist das Asperger-Syndrom-"

„Das trifft sich gut, dann können wir gleich Michelle dazu ausfragen wie es sich anfühlt!",wirft Tyler in die Klasse. Es wird gekichert. Doch als Nick sich umdreht, ist es plötzlich still. Ich bleibe in einer Schock-Starre sitzen. Bewege mich nicht. Atme schwer. Kommt es den andern so vor als habe ich das?

„Du hast keine Ahnung, also halt deine verdammte Schnauze!"

„Hey! Jungs! Ich korrigiere mich. Luis Sie werden statt Tyler in diese Gruppe gehen.

Und weil es zwischen Ihnen dreien anscheinend noch Klärungsbedarf besteht, werden Sie Tyler, Nick, Michelle und Anne das Thema Stockholm-Syndrom bearbeiten!"

Was? Nein! Jedes andere Syndrom aber nicht dieses! Ich sacke in mir zusammen. Das bedeutet, dass ich mich die nächsten zwei Wochen mit einem Syndrom beschäftigen darf, dass entführte bekommen können.

Ich bin den Tränen nahe.

„Nicht weinen Püppchen, dich will schon keiner entführen...",lacht Tyler. Meine Unterlippe zittert. Ich kämpfe mit den Tränen. Doch ich merke, dass es mir nicht mehr lange gelingen wird. Schnell stehe ich auf. Und verlasse den Raum. Die Tränen beginnen zu laufen. Ich beginne zu schluchzen. Mir kommen Bilder in den Kopf. Ein Gesicht, dieses provokante Lächeln. Die fettige Haut. Die kahle Glatze. Die blauen Augen.

Ich fasse mir an den Kopf. Versuche dieses Bild aus meinem Kopf zu bekommen. Alles beginnt sich zu drehen. Meine Hand tastet nach der Wand. An dieser stütze ich mich ab.

Jemand lacht. Mir läuft eine Schauer über den Rücken. »Es wird nicht weh tun!«

Mir wird schlecht und ich beginne zu würgen. Auf meiner Haut bilden sich Schweißperlen.

„Michelle, alles gut. Wir sind hier. Du bist hier in der Schule." Jemand nimmt mich in den Arm. In mir verkrampft sich alles. Ich brauche Platz. Platz zum Atmen! Es fühlt sich an als würde mir jemand die Luftröhre zudrücken.  Mit aller Kraft drücke ich Nick von mir weg. Mir ist kalt und warum zugleich. Meine Sicht verschwimmt. Mir kommt es vor als würde ich mich in Zeitlupe bewegen.

„Michelle, ich bin hier. Erzähl mir was dich bedrückt...",versucht er verzweifelt mir zu helfen. Doch mir ist schon lange nicht mehr zu helfen.

Wieder taucht dieses Bild in meinem Kopf von diesem Kerl auf. Ich schluchze. Weine bitterlich. Es soll aufhören. In meinem Brustkorb scheint sich alles zusammen zuziehen. Mach das es aufhört! Es tut so weh! Bitte, mach das es aufhört!

Wieder ein Lachen. »Ist doch gar nicht so schlimm, oder?!«

Doch! Doch, das war es!

„Michelle rede mit mir, ich kann dir sonst nicht helfen!", er klingt immer verzweifelter , „es tut mir, leid. Mir tut alles leid. Es ist alles meine Schuld!"

Halt doch die Klappe, was kannst du schon dafür?

Ich würge erneut. Mir ist so verdammt schlecht. Mein Bauch zieht sich zusammen und knurrt dabei gleichzeitig. Mein ganzer Körper streikt. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Es soll einfach enden! Bitte, mach das es aufhört. Wieso kann nicht irgendjemand etwas tun, damit dieser Schmerz aufhört?

„Michelle! Wenn du nicht mit mir redest, dann bist du selbst dran schuld. Friss alles in dich hinein! Soll mir auch egal sein. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Also mache ich jetzt einfach gar nichts mehr! Wenn du dich entscheidest mit mir zu reden, dann kannst du gerne kommen. Aber ich laufe dir nicht mehr hinterher! Ich habe die Schnauze voll!"

Vierlinge Survival (2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt