Tag X

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TAG X

»Hast du alles?« Stumm habe ich genickt. Ich bin dafür nicht bereit gewesen. Es ist alles viel zu schnell passiert. Wie sollte ich das alles verarbeiten? Wie sollte ich überhaupt realisieren, was da passierte. Ich habe mich gefangen in einer Seifenblase gefühlt. Irgendwie frei und irgendwie gefangen. Die Stimmen der anderen drangen nicht wirklich zu mir und meine Stimme drang nicht nach draußen. Ich konnte noch so laut schreien. Mich hat keiner gehört. Stumm war ich für sie.

Finn hat mich von oben bis unten gemustert. Als ob er prüfen wollte, dass es mir wirklich gut ging und nicht jeden Moment zusammenklappen würde. Wenn er meinen Schmerz und mein schlechtes Wohl bemerkt hat, so hat er sich nichts anmerken lassen. Er hat einfach versucht zu lächeln, auch wenn er dabei kläglich gescheitert ist.

Dann hat er einen Schritt auf mich zugemacht und hat mich in den Arm genommen. Sein Herz hat wie wild gehämmert. Völlig unkontrolliert. Sein Brustkorb hat gebebt. Und er hat bitterlich geweint. In diesem Moment war er nicht der starke Finn gewesen. Er hat seiner Trauer freien Lauf gelassen. Er hat so zerbrechlich gewirkt. Es war kein einfacher Tag für uns gewesen. Wir haben an diesem Tag unseren Bruder verabschiedet. Und es tut mir so unglaublich leid. Er hatte sein Leben gegeben um meins zu retten. Er hätte das nicht tun sollen. Es hätte nie soweit kommen dürfen. Paul hatte das nicht verdient. Paul war zwar nicht perfekt, aber wer ist das schon? Paul hätte alles für uns getan. Aber es fühlt sich falsch an, ohne ihn weiter zu leben.

»Mila, wenn du reden willst...ich bin für dich da...okay?«, hatte Finn schluchzend gemurmelt. Finn ist der einzige, der mir das gesagt hatte. Aber ich habe es nicht wirklich wahrgenommen. Zu sehr war ich mit dem Schmerz in meiner Brust beschäftig gewesen. Zu sehr belastete mich der Gedanke daran, dass Paul sein Leben gab um mir meins zurück zugeben.

»Kommt ihr? Wir müssen los...«

Mit zitternden Schritten habe ich unser damaliges Haus verlassen. Immer wieder war ich kurz davor gewesen in Tränen auszubrechen. Aber keine einzige trat aus meinen Augen. Und dennoch hatte mich der Schmerz innerlich fast zerfressen. Er hat mich kaputt gemacht. Wie konnte ich zulassen, dass es soweit kam? Wieso habe ich es nicht verhindern können? Ich hätte doch etwas tun können...Ich hätte etwas tun müssen. Nicht Paul sollte jetzt tot sein, sondern ich. Und ich hasse mich dafür, dass ich es nicht bin. Ich hasse mich dafür, dass Paul wegen mir tot ist.

Vor dem Friedhof angekommen brachen bei mir die Dämme. Ich konnte das nicht. Alles in mir hatte sich gesträubt, dieses Gelände zu betreten. Tränen sind mir ununterbrochen über die Wange gelaufen. Mein gesamter Körper hatte gebebt. All meine Kräfte schienen mich verlassen zu haben. Kraftlos habe ich mich neben dem Tor an die Mauer gesetzt. Lennard hat versucht mich hoch zu ziehen. Aber ich habe mich gegen seine Berührungen gewehrt. Ihn angeschrien, er solle mich nicht anfassen. Mein Vater schien völlig überfordert mit der Situation. Und um sich nicht weiter mit mir beschäftigen zu müssen, ist er, Luis und Lennard schon einmal auf den Friedhof gegangen.

Ich habe mich an dem Tag schon gar nicht mehr geschminkt. Weil ich ganz genau wusste, dass es nicht gut enden würde. Meine Nase war wahrscheinlich rot wie die Nase von Rudolf. Aber darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Alles was mich beschäftig hat, war Paul. Es war für mich unbegreiflich, ihn einfach verloren zu haben. Ohne mich wirklich von ihm verabschiedet zu haben. Es war für mich unvorstellbar, dass ich kein einziges Wort mehr mit ihm wechseln würde. Ich konnte mich nicht mal mehr an seine letzten Worte zu mir erinnern.

Jeder Atemzug ist mir schwergefallen. Es fühlte sich an, als würde ich erdrückt werden. Als würde mir etwas die Luft zu atmen nehmen. Ich habe nach Luft gejapst. Mir ist schlecht gewesen und ich hätte mich am liebsten übergeben.

Finn hatte sich neben mich gesetzt und einfach geschwiegen. Er hatte gewusst, dass ich zu ihm kommen würde, wenn ich es für angebracht hielt, über das vergangene zu reden. Aber je mehr Zeit verging, desto unangebrachter fand ich es.

»Du solltest dich bei ihm verabschieden...wir sollten uns von ihm verabschieden...« Finn hatte sich aufgerichtet und hielt mir die Hand hin. Aber ich nahm sie nicht. Ich hatte einfach Angst. Angst von diesem Schmerz verschlungen zu werden. Angst, dass es noch mehr weh tun würde. »Du würdest es dir ewig vorwerfen, wenn du jetzt nicht gehst...« Und damit hatte Finn recht. Mehr als dieser Schmerz würden an mir die Vorwürfe, ihn nicht richtig verabschiedet zu haben, nagen.

Also habe ich mir einen Ruck gegeben und habe seine Hand genommen. Er war nicht kirchlich engagiert, also gab es auch keine lange Rede des Pfarrers. Es stand lediglich seine Urne da. Es wurde eine traurige Melodie dazu abgespielt. Und dann wurde seine Urne zu seinem Grab gebracht. Ich habe am ganzen Körper gezittert. Es war endgültig. Paul war nun endgültig fort. Und diese Tatsache tat so unglaublich weh.

»Ich weiß, Paul, dass du noch einiges in deinem Leben vor hattest. Es ist nicht fair, dass du schon so früh von uns gehen musstest. Ich würde alles geben um...«,Luis stockte. Er kämpfte mit sich selbst. Er wollte unbedingt noch ein paar letzte Wort an Paul los werden. Er und Paul haben sich schon immer sehr nahe gestanden, um so schwerer muss für ihn der Abschied gewesen sein. »...um mit dir tauschen zu können. I-ich weiß nicht was ich sagen soll, Paul. Du fehlst mir so unglaublich. Du fehlst uns unglaublich. Deinen Platz wird nie irgendjemand füllen können.« Er blinzelte und kämpfte gegen die Tränen an. »Jetzt ist keiner mehr da, der mich bei Fifa abzocken kann. Und ich scheiße verdammt, ich hätte nie gedacht, dass mich das so sehr frustriert! Ich hoffe sehr...das-das du da oben jemanden findest, denn die in Fifa abzocken kannst. Und irgendwann zocken wir zusammen. Ich...ich -ich hab dich lieb großer Bruder...«, damit brach er in Tränen aus. Sah in das Grab in dem Pauls Urne lag. Und dann in den bewölkten Himmel. Ich habe ihm angesehen, wie schwer ihm diese Grabrede gefallen ist. Wie viel Überwindung es ihn gekostet hat.

Die anderen hatten auch noch etwas gesagt. Allerdings war ich gedanklich völlig abgeschweift. Wimmerte leise vor mich hin und starrte ein Loch in die Leere. Und nachdem sie alle fertig waren trat ich wie hypnotisiert vor sein Grab, kniete mich nieder und flüsterte: »Es tut mir leid...« Mehr brachte ich nicht zu Stande. Vor meinem innerlichem Auge tauchten Bilder auf. Bilder von Paul. Wie er lacht. Wie er die lebensfrohe Person ausstrahlte, die er war. Wie er diese lustige Art zu Vorschein brachte. Wie er einfach nur er war. Wie wir ihn liebte. Ich hoffe so sehr, dass es ihm gut geht.

Ruhe in Frieden , Paul.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 28, 2016 ⏰

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