Das Engelsmädchen

Kapitel 4

Ich habe ein sehr ungutes Gefühl bei der Sache. Vielleicht nimmt Aro mich, dank meiner Gabe, auf. Vielleicht auch nicht. Ich muss sein Interesse an mir wecken, nur so kann ich überleben. Sie führen mich durch eine Halle mit ihrer Sekretärin darin. Sie ist ein Mensch, das erkenne ich sofort an dem Geruch und an ihrem schlagenden Herzen. An der Tür steht ein Mann mit dem Rücken zu uns. Er trägt eine Volturirobe. Um uns die Tür zu öffnen, dreht er sich um. Es ist ein bekanntes Gesicht. Ich glaube es ja wohl nicht.

,, Was tust du hier?'', zische ich ihn an.
,, Ich brauche nicht auf dich hören. Du bist nur vier Jahre älter als ich'', antwortet er bissig.
,, Ihr kennt euch?'', fragt Jane verwirrt.
Ich dachte immer, Volturi zeigen keine Gefühle.
,, Sie ist meine Schwester, leider'', sagt Santiago bedauernd.
,, Pah, du solltest mir dankbar sein. Immerhin habe ich dich vor all den Jahren laufen lassen. Ich hätte dich töten sollen. Willst du meine Gabe zu spüren bekommen?''
Bevor er antworten kann, lasse ich meine Wut frei.
Mit Genugtuung beobachte ich, wie er vor Schmerzen zusammenbricht und sich nur mit Mühe zurückhalten kann, um nicht loszuschreien. Ich grinse bis mich ein starker Schmerz zusammen zucken lässt. Er zieht von den Beinen hoch und fühlt sich an, als würde ich verbrennen. Und doch schreie ich nicht, sondern bleibe ganz ruhig. Soll doch Jane, das kleine Monster, denken, dass sie mir nichts anhaben kann.

Ich lasse von Santiago ab und gehe selbstbewusst mit erhobenem Haupt durch die Tür. So viel Stolz habe ich dann doch noch. Wie kann er es auch wagen, sich den Volturi anzuschließen?

In dem Raum sitzt Aro auf einem Thron. Die beiden Throne, die ihn umrahmen, sind leer.
,, Ah'', ruft er,,, Sina, Ich hatte mich schon gefragt, wann du uns wieder beehren wirst. Bist du immer noch im Geschäft?''
Ich weiß zwar von Aros Gabe, aber trotzdem schockiert es mich, dass er so viel weiß. Wahrscheinlich auch von Santiago.
,, Meister?'', erhebt Felix das Wort.
,, Sprich, Felix.''
,, Sie hat unerlaubt in Volterra gejagt.''
Aro runzelt interessiert die Stirn.
,, Hm. Meine liebe Sina. Du willst deinem Bruder doch keinen Kummer bereiten, oder?''
Ich schnaube.
,, Mit Verlaub, Meister Aro. An meinem Bruder liegt mir nichts. Und ihm an mir sicher auch nicht."
Er stößt ein kindliches Kichern hervor, doch in der nächsten Sekunde ist er wieder ernst.
,, Afton, hol bitte meine Brüder. Ich denke, sie möchten bei einer so wichtigen Entscheidung dabei sein.''
Der angesprochene dunkelhäutige Vampir geht aus dem Raum.
,, Würdest du mir deine Hand geben, Liebes?'', flüstert Aro und steht auf einmal direkt vor mir.
Ich reiche ihm nicht ganz freiwillig die Hand und er schließt die Augen. Kurz darauf öffnet er sie wieder und ich bemerke, dass ich unaufmerksam war. Der Trohn neben ihm ist nun nicht mehr leer. Marcus sitzt auf ihm und sieht sehr gelangweilt aus. Doch von Caius fehlt weiterhin jede Spur. Auch den anderen Hexenzwilling, Alec, habe ich noch nicht gesehen.
,, Bruder. Was störst du mich? Du weißt doch das Athenodora und ich heute Hochzeitstag haben.''
Die Stimme ist mir unbekannt.

Das muss dann wohl Caius sein. Er hat spürbar schlechte Laune. Dann steht er direkt vor mir und hebt mich am Hals hoch.

Es brodelt in mir. Wie kann er es wagen? Eigentlich darf ich mich nicht wehren, sonst werde ich wohl nicht überleben. Doch ich kann mich nicht halten und Caius erstarrt. Jeder reagiert anders auf meine Gabe. Die meisten krümmen sich, andere erstarren nur. Kommt darauf an, wie immun man gegen Angst ist. Ich erhöhe den Druck und langsam geht auch Caius zu Boden.
,, Na, na. Sina. Es reicht.''
Schnell drehe ich mich um und mir wird bewusst, was ich getan habe. Praktisch meinen eigenen Tod besiegelt. Jetzt wird Aro mich erst recht nicht mehr aufnehmen.
,, Es tut mir leid'', murmele ich und senke meinen Blick.
,, Caius. Sie sollte sich uns anschließen. Wieso, weißt du ja jetzt, Bruder.''
Aro tadelt Caius, das wundert mich. Es ist seltsam, da sie eigentlich immer als geschlossene Gruppe auftreten.
,, Also, wenn du dich immer noch anschließen willst, kannst du das. Sonst...''
Er unterbricht sich, doch ich weiß, was er sagen will. Tod.

,, Ich möchte mich euch anschließen'', sage ich fest.
Meine Cousine wird mich umbringen, wenn sie das herausfindet. Sie hat mir alles Nennenswertes über die Volturi erzählt. Sie würde auch bei Santiago nicht begeistert sein, obwohl sie sich wohl nie leiden konnten.
,, Wie schön!'', ruft Aro und klatscht in die Hände.
,, Felix, würdest du ihr bitte ihr Zimmer zeigen?''

Felix nickt und flitzt davon. Ich laufe ihm hinter her. Wir biegen in viele Gänge ab, mal links und mal rechts. Selbst mein vampirischer Orientierungssinn kämpft mit der Übersicht. Er bleibt vor einer schwarzen Tür stehen.
,, Dein Zimmer ist zwischen Alecs und Demetris. Falls du irgendwelche Kleidung brauchen solltest, musst du Heidi oder Athenodora fragen. Janes Kleidung werden dir zu klein sein, besonders wegen deinem...''
Er gestikuliert wild an seinem Oberkörper und mir geht auf, dass er meinen Busen meint. Nur mit Mühe kann ich mir ein Lachen verkneifen.
,, Wo finde ich denn die Frauen?''
,, An Athenodora solltest du dich an einem anderen Tag wenden. Du hast bestimmt schon gemerkt, dass Caius schlechte Laune hat. Heidi ist im Frauentrakt. Eigentlich sind wir streng getrennt, aber der Frauentrakt ist voll, da wie gerade erst zwei Neugeborene bekommen haben.''
Ich nicke und betrete das Zimmer.

Es ist pechschwarz und relativ klein. Ich habe von einem so vermögenden Clan wie den Volturi mehr erwartet. Ein verhältnismäßig großer Kronleuchter ziert die Decke und beleuchtet den Raum, der keine Fenster hat. Ein kleines Bett steht darin und ein großer Schrank, der fast an die Decke stößt. Ich werde ja wahrscheinlich ohnehin wenig Zeit hierdrin verbringen.
,, Neben an'', sagt Felix und zeigt auf eine Tür, die ich zwischen all der ganzen schwarzen Tapete noch gar nicht bemerkt habe,,, Ist das Badezimmer. Wahrscheinlich musst du dir auch Shampoo und so ausleihen.''
Er wendet sich, zu gehen, doch bleibt nochmal stehen.
,, Ach, ja. In drei Tagen veranstaltet Aro einen Ball, um neue Mitglieder der anderen Clans kennenzulernen. Du solltest eine angemessene Bekleidung finden. Vielleicht gibt Aro auch dir und einer Begleitperson die Erlaubnis, in die Stadt zu gehen und einzukaufen.''
Schon ist er weg. Erst gucke ich mich um. In dem kleinen Badezimmer ist ein Waschbecken, eine Dusche und ein Regal für Shampoo. Dieses ist jedoch leer. Das Zimmer ist tatsächlich weniger luxuriös, als ich es gewohnt bin. Ich vermisse jetzt schon die atemberaubende Aussicht meiner letzten Suite.

Seufzend mache ich mich auf den Weg, um den Frauentrakt zu finden. Nach einiger Zeit habe ich mich hoffnungslos verirrt. Gerade dann kommt mir das kleine, blonde Monster entgegen.
,, Na. Kann ich dir bei irgendetwas behilflich sein?''
Ich überhöre gekonnt den Hohn in ihrer Stimme.
,, Aber, gerne, Jane'', sage ich zuckersüß.
Man soll ja Gleiches mit Gleichem bekämpfen.
,, Würdest du mir bitte zeigen, wo Heidis Zimmer ist?''
,, Gerne'', antwortet sie in der gleichen Tonlage,,, Aber du dürftest bestimmt auch in die Stadt. Willst du nicht erst den Meister fragen, was er dazu meint?''
Ich nicke und folge Jane, in der Hoffnung, dass sie mich zum Thronsaal bringt und ich ihr nicht ohne Grund hinterherdackel. Sie kann mich nicht leiden. Sie könnte mich genauso gut, den Löwen zum Fraß vorwerfen.