Auf der höchsten Stufe der Freundschaft offenbahren wir dem Freunde nicht unsere Fehler, sondern die seinen.
(Francois de la Rochefoucauld)
Kim saß an ihrem Schreibtisch hinter einem Berg von Akten und blickte auf, als es klingelte.
„Na endlich!", murmelte sie und sah auf ihre Uhr, „Wurde ja auch Zeit!"
Sie stand auf, ging um den Schreibtisch herum und zur Eingangstür, welche die Kanzlei von Rechtsanwalt Ingo Bergman von den anderen Firmenbüros auf diesem Flur trennte. Als sie die Tür aufriss, platzte ein „Wo warst du Val?" aus ihr heraus, doch Kim hielt sofort inne, als sie erkannte, wer vor der Tür stand.
„Guten Morgen!", sagte der Postbote irritiert, lächelte aber dann und suchte die Post für die Kanzlei zusammen. Als er sie Kim hinhielt, sah er sie fragend an. Endlich erwachte Kim aus ihrer Enttäuschung und nahm die Post an sich, versuchte ein freundliches Lächeln und schloss dann die Tür. In diesem Moment hallte eine männliche Stimme über den Flur:
„Kim? Ist das Valerie? Dann schicken sie sie gleich zu mir!"
„Nein!", rief Kim, „Es war die Post! Valerie ist noch nicht da!"
Wieder blickte sie auf ihre Uhr und flüsterte:
„Verdammt, Val! Du bist jetzt fast zwei Stunden überfällig! Was ist los? Melde dich!"
Dann ging sie zurück in ihr Büro und schob ein paar Mappen zur Seite, damit die Post auf ihrem Tisch Platz fand. Wie jeden Morgen sortierte sie die Werbung aus und überflog dann die restlichen Sachen. Dabei fiel ihr ein weißer Umschlag auf. Darauf klebte eine jamaikanische Briefmarke. Neugierig öffnete sie diesen Brief zuerst und las:
„Rechtsanwalt und Notar Dr. Ingo Bergman ...
Sehr geehrter Herr Bergman,
wie Sie wissen, befinde ich mich zurzeit in Urlaub. Unsere Reise hat uns nach Jamaika geführt. Hier habe ich jemanden kennen gelernt und mich hoffnungslos verliebt. Ich habe mich entschieden, hier auf Jamaika zu bleiben und aus diesem Grund kündige ich mein Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 30. Juni 2005. Freundliche Grüße, Valerie Mansing."
Fassungslos wisperte sie:
„Das ist nicht wahr! Das kann nicht sein!"
Sie legte den Brief auf den Schreibtisch, beugte sich vor und zog ihre Handtasche unter dem Tisch hervor. Sie holte einen bunten kitschig wirkenden Briefumschlag heraus, zog das Papier hervor und überflog den Brief noch einmal.
„Liebe Kim, ich hatte versprochen zu schreiben und – voilá – hier schreibe ich. Herrn Bergman und den anderen habe ich – wie versprochen – eine Karte geschrieben, aber da ich jetzt und hier alleine sitze und niemanden habe, mit dem ich reden kann, möchte ich Dir einen Brief schreiben.
Du hattest Recht. Es tut weh, das einzugestehen, aber Du hattest Recht mit allem, was Mike betrifft. Er hat mich betrogen... auf die mieseste Art, die man sich nur vorstellen kann. Ich habe ihn inflagranti erwischt und wir haben uns gestritten und im Verlauf dieses Streits hat er mir gesagt, dass er mich bereits seit Jahren betrügt. Ich fühle mich so mies, so benutzt und so... allein. Ich bin froh, dass ich auf deinen Rat gehört und genügend Geld eingepackt habe. Ich bin in ein anderes Hotel gezogen – weit weg von Mike. Und jetzt sitze ich hier ganz allein, starre in einen wundervollen Sonnenuntergang am Strand von Lucea und trinke einen Rotwein, um meine Traurigkeit zu betäuben. Direkt in Sichtweite befindet sich ein Nachtclub. Die Musik, die von da herüberschallt, verhindert, dass ich nicht schon wieder in Tränen ausbreche. Nichts sehne ich mehr herbei, als den Tag des Rückflugs – das kannst du mir glauben. Ich wäre sicher auch eher zurückgeflogen, aber ich hätte ein neues Ticket lösen müssen und das wäre sehr teuer und meines umzutauschen wäre nicht möglich - hat man mir gesagt. Also habe ich entschieden, die letzten zehn Tage doch noch hier zu verbringen und Ordnung in meine Gedanken und Gefühle zu bringen. Andererseits tut es mir in der Seele weh zu wissen, dass Du in Arbeit erstickst. Glaub mir: nichts täte ich gerade jetzt lieber, als mit Dir in unserem Büro zu sitzen, zu arbeiten und nach Feierabend mit Dir über alles zu reden, was in den letzten Tagen hier passiert ist... Du warst und bist die Einzige, die mir niemals Vorwürfe gemacht hat, sondern mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat! Wenn ich wieder da bin, dann lade ich dich zum Essen ein und wir werden über alles reden, abgemacht? Ich freue mich so sehr auf den Tag meiner Rückkehr... und ich habe mir geschworen, dass dann ein neues Leben für mich beginnt: ich werde mir eine eigene Wohnung suchen, mein Training fortführen, meine Eltern anrufen und meine ehemalige Freundin und endlich all die Dinge tun, die ich schon lange tun wollte... aber im Moment bin ich dazu verdonnert, auf dieser Insel zu sitzen und den Tag meiner Rückkehr abzuwarten.
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Die Insel
RomanceValerie begleitet ihren Freund auf eine traumhafte Geschäftsreise nach Jamaika. Allein mit ihm weit weg von Zuhause bricht ihr bisheriges so sicheres Leben auseinander und Valerie muss sich alleine durchschlagen. Sie lernt den gut aussehenden und m...