7 GENUG

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Eine Übertreibung ist eine Wahrheit, die die Geduld verloren hat.

(Khalil Gibran)

Ein frischer Wind wehte von Westen her über die Insel und die Palmen am Strand beugten sich seiner Laune. Die Wellen waren höher als üblich und das Rauschen des Riffs drang tief in ihr Unterbewusstsein. Der Himmel über ihr war strahlend blau, das Meer schimmerte smaragdgrün und weiter draußen war es bodenlos schwarz. Die Palmenwedel über ihr ließen nur ab und zu die Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fallen. Und sie ... sie fühlte sich leicht, leicht wie eine Feder, beschwingt und frei.

Wenn so etwas möglich war, dann dachte sie jetzt gar nichts und nur das Bild aus Sonne, Sand, Meer, Palmen und Wind beschäftigte ihren Geist. Unwillkürlich schlich sich etwas Störendes ein. Ein winziger Schatten nur, aber er beunruhigte sie. Als sie aufblickte um zu ergründen, was es war, sah sie die große weiße Jacht in der Bucht liegen und jemanden am Strand entlang kommen. Eine innere Unruhe ergriff von ihr Besitz. Je näher die Gestalt kam, desto größer und deutlicher wurden ihre Umrisse, doch erkennen konnte sie die Person nicht, denn die Sonne stand hinter ihr. Ihre Unruhe ging in Ängstlichkeit über und je näher die Person kam, desto mehr wandelte sich ihre Ängstlichkeit in Angst. Sie wollte aufstehen und wegrennen, aber sie klebte im Sand fest. Ihre Muskeln versagten ihr den Dienst und ihre Glieder waren taub. Es war ein Mann. Groß, breitschultrig und bedrohlich wirkend kam er unaufhaltsam auf sie zu. Sie wollte etwas sagen, doch nicht einmal ihre Stimme gehorchte ihr. Sie spürte zwar, wie sich ihre Lippen bewegten, doch aus ihrer Kehle drang kein Laut. Dann war er bei ihr, beugte sich über sie und berührte ihre Haut. Sie spürte seine Berührung und in diesem Augenblick war ihre Angst wie weggeblasen. Seine Hände glitten über ihre Haut, strichen sanft über ihren ganzen Körper und seine Lippen fanden ihre. Sie spürte sie sehr wohl, aber sie sah sie nicht. Sie blickte auf und in ein Gemisch aus Farben, aber sie konnte keine Konturen erkennen! Kein Gesicht formte sich aus den Farben. Er legte sich auf sie, drang in sie ein und sein Glied schien in ihr anzuschwellen. Sie wurde eins mit seinen Bewegungen, krallte ihre Hände in seine Haut und trieb dem Gefühl der totalen Aufgabe entgegen. Noch ein, zwei Mal ...

Die Läden krachten gegen die Außenwand. Valerie fuhr hoch. Mark stand am geöffneten Fenster und blickte zu ihr hinüber. Als er sie ansah, schwand sein gerade noch schadenfrohes Grinsen und sein Gesicht wurde zu einer blassen Maske: ihre Augen waren klein, geschwollen und rot. Ihr ganzes Gesicht schien aufgedunsen. Mark spürte einen Stich in seiner Brust als ihm klar wurde, dass sie die ganze Nacht geweint haben musste.

„Es ist Zeit!", sagte er knapp. Valerie nickte müde und rappelte sich aus dem Bett. Wortlos ging sie ins Bad. Sie vermied es, ihn anzusehen, denn es bereitete ihr Schmerzen. Die ganze Nacht hatte sie sich mit der Frage gequält, warum er ihr so etwas antat. Diese eine Frage würde sie noch um den Verstand bringen! Immer wieder und wieder und wieder fragte sie: warum? Warum? Warum nur?

Doch eine Antwort hatte sie nicht gefunden. Sie wusste nur noch eines: sie musste um jeden Preis hier weg, ehe sie ihm und seiner Macht total verfiel und sich selbst aufgab! Zu lange hatte sie sich seiner Macht ergeben, aber jetzt war Schluss damit! Der Vorfall letzte Nacht hatte die Entscheidung gebracht!

Die Qual, die Mark ihr mit dem Entzug seiner Nähe auferlegt hatte, war unerträglich für Valerie gewesen. Wenn sie ihn ansah, dann spürte sie grenzenlosen Hass in sich aufsteigen. Sie glaubte sich jetzt sogar fähig, ihn zu töten, wenn sie hier blieb! Entweder, ihr würde die Flucht gelingen - wie auch immer - oder sie würde Mark umbringen! Eine andere Lösung gab es nicht.

Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete sich traurig.

Was ist nur aus mir geworden? fragte sie sich, Eine Marionette in einem grausamen Spiel!

Erneut war sie den Tränen nahe. Ihr Traum fiel ihr wieder ein. Es war dasselbe: erst das Gefühl der Leichtigkeit, dann die Angst, dann das Glücksgefühl und dann das Erwachen, bevor sie das, wonach sie sich sehnte, auskosten konnte!

Sie sah sich an und hasste sich in diesem Augenblick selbst. Sie blickte an ihrem Körper entlang und zum ersten Mal sah sie die kahlen Stellen. Sie ging ein Stück vom Spiegel weg und betrachtete ihren Körper im Ganzen. Seit Tagen hatte sie das nicht mehr getan und sie legte ihre Stirn in Falten. War sie schlanker geworden? Ihre Brüste schienen fester, ihre Schenkel schmaler geworden zu sein. Sie drehte sich zur Seite und sah, dass auch ihr Bauch etwas flacher geworden war. Ihr Gesicht erschien ihr schmaler und sie fand kaum noch eine Stelle, die ihr an ihr selbst missfiel. Hinzu kam, dass ihre Haut gleichmäßig gebräunt war.

Kein Wunder! dachte sie verbittert, Es hat ja auch kaum einen Tag gegeben, an dem ich nicht nackt geschwommen bin!

Valerie stutzte. Ihr wurde klar, dass ihre Körperformung an der Bewegung und der Ernährung lag, zu der Mark sie zwang. Das änderte aber noch lange nicht ihre Meinung über ihn und sie fühlte sich deshalb keineswegs besser!

Nachdem sie ihre Morgentoilette beendet hatte, ging sie zurück ins Zimmer und zog sich etwas über. Mark stand am Fenster und blickte hinaus.

Das wäre eine gute Gelegenheit, dachte Valerie, ihn umzubringen! Ich müsste ihn nur stark genug stoßen...

Doch als sie einen Schritt auf ihn zumachte, drehte er sich um. Sie erschrak und blieb abrupt stehen.

„Worauf wartest du noch?".

Valerie zog eine Augenbraue hoch. Hatte er ihre Absicht erraten?

„Deine Runde ist längst fällig!", schob Mark hinterher und Valerie stieß die eingesogene Luft aus. Als sie zur Tür ging und sah, dass er sich nicht bewegte, fragte sie:

„Begleitest du mich heute nicht?"

Mark schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich werde dir heute nur zusehen. Aber denk daran: ich beobachte dich ständig und ich kenne deine Zeit! Also mach keine Dummheiten!"

Sie riss die Tür auf, trat hinaus in den Flur und schmiss die Tür mit aller Gewalt zu, dass der Rumms im ganzen Haus widerhallte. Dann stürmte sie die Treppe hinunter, weil sie erwartete, dass er hinter ihr herkam, doch es tat sich nichts.

Mark stand noch immer am Fenster und blickte hinaus. Als er Valerie unten am Strand herlaufen sah, drehte er sich um und ging langsam auf ihr Bett zu. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und strich gedankenverloren mit einer Hand über die Falten in ihrem Laken. Dann ließ er sich auf die Seite fallen, krallte seine Finger in das Laken und begann, haltlos zu weinen.

Die InselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt