Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gelassenheit,
dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht.
(Vaclav Havel)
Sie wusste nicht, wie lange sie in dem warmen Wasser gehockt und geweint hatte, aber allmählich beruhigte sie sich, streckte sich aus und ließ das warme Wasser ihren Körper umspülen.
Warum? Warum? Warum? Dieses ewige warum war in ihrem Kopf zu einem gleich bleibenden Rhythmus geworden, vor dem sie nicht mehr flüchten konnte. Warum hatte er das getan? Warum war sie hier? Warum gerade sie?
Valerie war nicht in der Lage, irgendetwas geradeaus zu denken. Sie blickte in das glasklare Wasser, in den unbeschreiblich blauen Himmel und manchmal blinzelte sie auch in die hoch stehende Sonne. Doch wohin sie auch blickte: immer waren da die Bilder der vergangenen Nacht und diese Bilder jagten sie wie ein Phantom.
Endlich wanderte ihr Blick weiter und sie erkannte in der Ferne das Riff. Das gewaltige Rauschen der sich am Riff brechenden Wellen drang bis zur Insel und als Valerie die Augen schloss hatte sie das Gefühl, sich mitten in einem Sturm zu befinden. Dieses Gefühl war tief in ihr und ihr schwindelte, als ob sie betrunken sei. Sie riss ihre Augen wieder auf und sofort verschwand das Gefühl. Valerie räkelte sich in dem warmen Wasser und ließ es ihren Körper umspülen. Später drehte sie sich langsam auf den Bauch und ließ sich vom Salzwasser tragen. Ihre Hände spielten mit dem weißen feinen Sand und je länger und ruhiger sie so dalag, desto mehr Fische kamen in ihre Nähe. Endlich schwamm sie ein paar Züge hinaus und wieder zurück. Und wieder fiel ihr Blick auf das Riff weit draußen vor der Insel. Wie weit mochte es entfernt sein? fragte sie sich plötzlich, zwei-, dreihundert Meter?
Und ohne zu wissen, was sie da eigentlich tat, änderte sie ihre Richtung und schwamm in Richtung des Riffs. Einige Male drehte sie sich auf den Rücken und sah die Insel hinter sich kleiner werden.
Mehr als einmal ging ein seltsames Kribbeln durch ihren Körper. Zuerst dachte sie, dass es daran läge, dass sie noch nie nackt ins Meer hinausgeschwommen war. Aber das war es nicht, was das Kribbeln in ihr verursachte. Dieses Kribbeln ging immer dann durch ihren Körper, wenn sie nicht erkennen konnte, was gerade unter ihr war. An einigen Stellen konnte sie Sand oder Korallenbänke unter sich erkennen. Aber andere Stellen schienen sehr viel tiefer zu sein, so dass man nicht bis auf den Grund sehen konnte. Und ihre Haut kräuselte sich genau dann, wenn sie über solche Stellen hinwegschwamm.
Der Gedanke, was dort in der Tiefe alles unter ihr herschwimmen konnte, ohne, dass sie etwas davon wusste, jagte einen Schauer nach dem anderen durch ihren Körper. Dennoch hatte sie keine Angst. Unbeirrt schwamm sie weiter, das Riff vor Augen. Sie konnte nicht sagen, was sie dort eigentlich wollte oder warum sie gerade dorthin schwimmen wollte, sie wollte es einfach erreichen.
Mit jedem Schwimmzug, den sie machte, fühlte sie sich freier. In ihrem Kopf formten sich allmählich wieder Gedanken. Sicher konnte man an oder auf der Riffkante stehen und das Meer überblicken. Sie würde die Insel aus einer anderen Perspektive sehen.
Vielleicht ist es das! Vielleicht muss ich die Insel aus einer anderen Perspektive sehen! Einen Abstand davon haben! dachte sie plötzlich und ein leichtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Valerie schwamm langsam, doch sie hatte kein Gefühl für Strömung oder Entfernung. Sie wollte nur das Riff erreichen. Es schien zum Greifen nah und doch hatte Valerie das Gefühl, als ob sie ihm nicht näher käme. Ihre Schwimmzüge wurden kräftiger. Bald jedoch fiel sie zurück in ihr vorheriges Tempo. Ihre Arme wurden seltsam taub und auch ihre Schenkel spürte sie kaum noch. Sie drehte sich auf den Rücken, blickte zur Insel zurück und erschrak. Seltsam klein war sie geworden. Die Insel erschien ihr meilenweit entfernt. Valerie schluckte. Sie blickte in den Himmel, an dem die Sonne weit gewandert war.
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Die Insel
RomansaValerie begleitet ihren Freund auf eine traumhafte Geschäftsreise nach Jamaika. Allein mit ihm weit weg von Zuhause bricht ihr bisheriges so sicheres Leben auseinander und Valerie muss sich alleine durchschlagen. Sie lernt den gut aussehenden und m...