12 VALERIE

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Vergib, soviel du kannst, und gib, so viel du hast.

(Friedrich Rückert)

Der Mond warf seinen silbrigen Schein auf die Bucht, in der die „Victoria" vor Anker lag und ließ die stolze Jacht wie ein verschwommenes Traumbild aussehen. Die Meeresoberfläche funkelte wie tausend kleine Diamanten. Eine leichte Brise ließ die Kerzen auf den Tischen des mit bunten Birnen beleuchteten, kleinen Restaurants in der Bucht vorwitzig tänzeln. Kim und Valerie saßen an einem der Tische bei einer Flasche Wein und ließen gerade ihre Gläser hell erklingen. Dann nahmen beide einen Schluck und stellten ihre Gläser zurück auf den Tisch. Für eine ganze Weile schwiegen sie und jede hing ihren Gedanken nach. Und plötzlich setzten sie beide gleichzeitig an, etwas zu sagen, verstummten wieder und mussten laut lachen. Ihr Lachen schallte über das Meer und stieg an der Bordwand der „Victoria" hinauf und erreichte auch Mark, der an der Treppe über der Reling lehnte und zum Restaurant hinüberblickte. Dann lächelte er leise, stieß sich von der Reling ab und verschwand unter Deck.

Die beiden Frauen beruhigten sich und sahen sich jetzt lange an. Endlich brach Kim das Schweigen:

„Ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll! Ich habe versucht, es zu verstehen, aber irgendwie...".

Valerie nickte, winkte dann aber ab:

„Ich erwarte gar nicht, dass du etwas verstehst, für das ich sechs Wochen gebraucht habe. Ich möchte nur, dass du versuchst, es zu akzeptieren. Eigentlich hat Mark es auf den Punkt gebracht: er ist so und er will es so."

„Und du?", fragte Kim jetzt herausfordernd. Valerie lächelte leise, wich Kims Blick aus und blickte in die Bucht zur „Victoria" hinüber. Dann schien sie sich selbst in die Realität zurückzuholen, riss ihren Blick von der Jacht los, nahm das Weinglas vom Tisch und blickte in den Rotwein, als könne sie dort die Antwort lesen und sagte:

„Ich habe es lange nicht sehen wollen, aber ich will es ebenso – mehr, als alles auf der Welt!"

„Warum?", fragte Kim jetzt eindringlich und musterte Valerie.

„Ts, warum!", spöttelte Valerie, „Wie oft, glaubst du, habe ich mir diese Frage gestellt? Die Antwort ist: ich weiß es nicht! Vielleicht...", begann sie beinahe gedankenverloren, „Vielleicht war es eine tiefe Sehnsucht in mir und Mark hat sie gefunden!"

„Dann steht deine Entscheidung also wirklich fest!?"

Jetzt nickte Valerie entschieden und sagte:

„Ja. Meine Entscheidung steht fest. Ich werde hier bleiben, bei Mark."

„Ich werde dich vermissen, Val – das meine ich ernst!"

Valerie lachte leise aber ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie Kim anblickte und mit brüchiger Stimme sagte:

„Ich werde dich auch vermissen! Aber vielleicht...", sie holte ihre Strandtasche unter dem Tisch hervor und kramte darin. Endlich zog sie ihr Tagebuch hervor und eine kleine Tüte voller Filmdosen. Sie legte beides vor sich auf den Tisch und stellte ihre Tasche zurück. Dann legte sie beinahe zärtlich ihre Hände auf die Sachen und atmete tief durch.

„Vielleicht hilft dir das hier ein wenig darüber hinweg!"

„Was ist das?", fragte Kim neugierig, als Valerie es ihr über den Tisch schob, jedoch so richtig noch nicht loslassen konnte. Endlich zog sie ihre Hände zurück, als wären das Buch und die Filme unter ihren Händen plötzlich heiß geworden.

Valeries Stimme bebte als sie sagte:

„Seit ich auf Jamaika bin, habe ich Tagebuch geführt. Es ist einfach so passiert. Anfangs hatte ich Langeweile und zunächst habe ich nur meine Ausflüge und jedes Foto dokumentiert. Später ist dieses Buch dann zu meiner Freundin geworden, der ich alles erzählt habe. Alles, was ich erlebt, gefühlt, gedacht habe in den letzten Wochen steht in diesem Buch. Ich möchte, dass du diese Sachen mitnimmst! Vielleicht... vielleicht legst du mit den Fotos ein Album an, so wie ich es vorhatte, und irgendwann, wenn du uns mal besuchen kommst, kannst du es mir ja zeigen!"

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