10 REUE

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Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens, was Glück war.

(Francoise Sagan)

Erst der Schrei eines Vogels hatte sie geweckt. Sie hatte sich unter Schmerzen auf den Rücken gerollt und blickte jetzt wieder in die Palmenwedel über ihr, durch die ab und zu die Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fielen. Ihre Schmerzen wurden stärker. Sie wollte sich bewegen und ihre Umgebung erkunden, doch sie hatte keine Kontrolle über ihre Muskeln. Sie fühlte sich seltsam taub. So starrte sie einfach nur in den unvergleichlich blauen Himmel über ihr und lauschte dem Rauschen des Meeres.

Was habe ich nur getan? fragte sie sich, Wozu das alles? Ich habe ihn umgebracht! Ich habe einen Menschen getötet!

Ihr Kopf dröhnte unter dieser Phrase, aber sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu weinen.

Ihre Gedanken wanderten noch einmal zu jener Nacht in einem bunt beleuchteten Tanzschuppen, wo ein gutaussehender, hochgewachsener, dunkelhaariger Fremder ihr das Leben gerettet hatte.

Sie sah die Bordwand der „Victoria" noch einmal vor sich aufragen: weiß, unschuldig und makellos und hoch und dann sah sie ihn zu ihr hinunter sehen.

Sie dachte noch einmal an die Nächte auf der „Victoria" in denen sie zusammen getanzt und gelacht hatten.

Und dann dachte Valerie an seine Hände und ihre eigenen Gefühle, als er sie zum Äußersten getrieben hatte! Hatte sie sich nicht immer einen Mann gewünscht, der ihr diese Aufmerksamkeit widmete und es schaffte, sie so glücklich zu machen? Aber sie hatte den einzigen Mann, der dies je vermocht hatte umgebracht.

Sie spürte ihre Kräfte schwinden. Welchen Sinn hatte es jetzt noch, weiterzuleben?

Sie dachte an den vergangenen Morgen und daran, dass sein Lächeln verschwunden war, nachdem er sie angesehen hatte. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie verweint und schrecklich ausgesehen hatte, als sie in den Spiegel geblickt hatte. Hatte ihn das etwa berührt? Hatte er etwas für sie empfunden? Valerie erinnerte sich plötzlich an kleine, bisher für sie unwichtige Momente: sein Blick letzte Nacht in ihre Augen ... sein abwenden, wenn er sah, dass sie geweint hatte ...

Valerie schloss ihre Augen und stöhnte leise. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Und dennoch kehrten ihre Gedanken zum vergangenen Morgen zurück. Hatte sie sich etwa nicht gefallen im Spiegel, so schlank, braun und gut geformt? Das hatte er aus ihr gemacht!

Und plötzlich begriff sie es. Er hatte sie nach seinen Vorstellungen geformt! Aber warum? Was steckte dahinter? Warum hatte er es ihr nicht einfach gesagt? War sie doch nur eine Versuchsperson, wie sie schon einmal vermutet hatte? Aber was war dann an seinem Experiment schiefgegangen? Vielleicht, dass er sich in sie verliebt hatte...? Sie sah seine braunen Augen vor sich und sie erkannte den Blick, der sie letzte Nacht beinahe um den Verstand gebracht hatte...

„Sieh mich an!", hörte sie ihn noch einmal sagen und dann brach die ganze furchtbare Wahrheit über sie herein:

Sie hatte den Mann getötet, der sie geliebt hatte und den sie tief in ihrem Innern von Anfang an geliebt hatte. Sie wollte weinen, aber sie konnte es nicht.

Was habe ich getan? Gott, vergib mir! Was habe ich nur getan? hämmerte es wieder und wieder durch ihren Kopf.

Ich habe es nicht besser verdient! Ich werde hier und jetzt sterben. Warum sollte ich weiter leben wollen? Ich habe mir selbst alles genommen, was mir etwas hätte bedeuten können! Ich war so dumm, so dumm...

Sie blickte in das Palmendach, durch das ab und zu die Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fielen. Die Sonne schmerzte in ihren Augen und es gelang ihr, ihren Kopf zur Seite zu drehen. In weiter Ferne sah sie einen dunklen Punkt, der sich schnell bewegte. Dieses Bild kam ihr so seltsam bekannt vor: das Palmendach, die Bucht, die weiße Jacht, der Punkt in der Ferne am Strand...

Wie schön, dachte Valerie, dass ich mit diesem Traum sterbe!

Und sie schloss ihre Augen.

Aber ich träume doch gar nicht! Oder werde ich verrückt? Halluzinationen ... wenn man dehydriert, dann bekommt man Wahnvorstellungen ... aber es ist keine Wahnvorstellung ... es ist mein Traum ...

Mühsam schlug sie noch einmal die Augen auf. Es gab keinen Zweifel: dies war die Bucht, von der sie so lange und so oft geträumt hatte und der schwarze Punkt in der Ferne kam immer näher. Die Silhouette wurde größer und breiter und kam auf sie zu.

Vielleicht, dachte Valerie noch, vielleicht werde ich dieses Mal sein Gesicht sehen...

Ein leises Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Dann war die Gestalt bei ihr und beugte sich über sie. Valeries Blick war seltsam verschleiert und sie brauchte eine Weile, bis sie die Konturen und Linien in diesem Gesicht erkennen konnte.

„Jetzt weiß ich, dass du es bist.", sagte sie schwerfällig, „Ich habe es die ganze Zeit nur nicht wahrhaben wollen!"

Mark musterte sie besorgt und stellte fest:

„Dein Traum? Ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass ich es bin!"

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie mit einem Toten sprach und sie fragte sich, ob sie vielleicht auch schon tot war!?

„Hast du große Schmerzen? Valerie! Himmel, bleib wach! Ob du Schmerzen hast?"

Sie blinzelte ihn an.

„Wie? Ich ... ja ... überall ... ich ...".

Sie spürte seine Hände ihren Körper abtasten, dann fühlte sie sich hochgehoben. Ein Stöhnen drang aus ihrem Körper und sie kämpfte gegen die aufsteigende Nacht:

„Wo ... lass mich ... du bist nur ... ein Traum ... ich habe dich ... getötet ...".

Sie sah ihn lächeln. Und es war das schönste Lächeln auf der ganzen Welt.

„Du hast mich nicht getötet. Vielleicht verletzt, aber nicht getötet!"

„Oh Gott ...!"

Mark hatte Valerie auf die Arme genommen und blickte auf ihre Wunden. Nach seinem Ermessen hatte sie ein paar gebrochene Rippen, etliche Prellungen und Schnittwunden und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, aber um sicher zu gehen, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebte, musste sie in ein Krankenhaus. Jetzt sah er ihr ins Gesicht. Ihr Kopf lag an seiner Schulter.

„Valerie?"

Sie murmelte etwas.

„Sieh mich an!", sagte er streng und Valerie öffnete mühsam die Augen.

„Du wirst nicht sterben! Nicht, so lange ich es dir nicht erlaube!"

Valerie lächelte gequält.

„Du hast es ... gewusst, nicht wahr? Von Anfang an ...", flüsterte sie.

„Ja!"

„War es das ... wert?"

„Jeden einzelnen Augenblick!"

Valerie lächelte müde, denn das Sprechen hatte ihr die letzten Kräfte geraubt. Ihr Kopf sank erneut gegen seine Schulter und dann war nichts als tiefes Schwarz um sie herum.

+B

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