Kapitel 19 - Die
"Good morning class", begrüßt uns, man lese und staune, die Direktorin höchst persönlich. Ihre Haare sind, anders als bei unserer ersten Begegnung nicht zu einem strengen Dutt gebunden, sondern hängen offen über ihre Schultern, was sie viel jünger wirken lässt. Am Samstag hätte ich sie noch auf anfang vierzig geschätzt, doch heute macht sie den Anschein einer anfang dreißig Jährigen. Ein Lächeln ziert ihre wohlgeformten Lippen und als sie mich fiksiert schaue ich direkt in ihre klaren Augen.
"...we have a new pupil. Hello Lou."
Oh. Stimmt ja. Ich bin "die Neue". Langsam drehe ich meinen Kopf, um mir eine Rundumsicht zu schaffen. Doch das Einzige was ich sehe, sind neugierige Blicke und fragende Gesichter. Alle starren sie mich an und warten auf etwas, aber auf was? Langsam richte ich meinen Blick wieder nach vorne auf die Tafel, wo Frau Jonson steht und mich ebenfalls abwartend ansieht.
"Can you present you in Englisch, please", fragt sie mich auf Englisch und endlich kapiere ich den Sinn dieses Starrwettbewerbes. Ich soll mich vorstellen. Mich präsentieren. Mit schnellen, selbstsicheren Schritten schreite ich vor und setzte in dem Moment ein falsches Lächeln auf, in dem ich mich zur gesamten Klasse drehe und anfange mich vorzustellen: "Hi. My name is Lou Marple. I'am sixteen years old and I'am from Stuttgart. I love it to ride, to draw, to write and to dance. Still questions?"
Ich deute auf einen sich meldenden Jungen und erwarte schon fast die Frage, die ich am liebsten aus den Köpfen aller Menschen dieser Welt löschen würde, doch er stellt zu meiner großen Überraschung und Erleichterung eine ganz andere Frage. "Do you have brothers and sisters?" Eine einfach Frage mit einer simplen Antwort. "No!" Er nickt nachdenklich und lässt seine Hand sinken. Einige Schüler tauschen verwirrte Blicke untereinander aus. Andere tuscheln mit ihrem Banknachbarn. Etwas nervös warte ich auf die erlösende Aufforderung von Frau Jonson mich wieder zu setzten, doch diese kommt nicht, stattdessen höre ich ein Schnipsen aus der ersten Reihe. Müde richte ich meinen Blick auf das Mädchen und nicke um ihm zu verstehen zu geben, seine Frage einfach zu stellen. Es nickt kurz, zieht seine Hand zurück an seinen Körper und schaut mich mit neugierigem Blick an. "Why are you here now?" Oh nein. Genau diese Frage, diese eine Frage wollte ich nicht gestellt bekommen. Was soll ich jetzt antworten? Die Wahrheit oder eine Lüge?
Doch mir bleibt eigentlich keine Wahl. Ich muss die Wahrheit sagen, wenn ich keine Probleme mit Frau Jonson bekommen will, denn ich bin mir sicher, dass sie die Wahrheit kennt. Also schlucke ich schwer und spreche die Worte aus, die es schon weh tut zu denken, doch gesprochen wirken sie noch realer. "My parents are dead!" Am Ende ist meine Stimme nur noch ein Flüstern, doch jeder im Raum scheint den Satz verstanden zu haben. Das Mädchen schaut mich mit großen Augen geschockt und mitleidig an. Wie die meisten aus der Klasse. "I'm sorry", nuschelt sie und wendet den Blick von mir ab. Die Tränen schaffe ich nur durch reine Körperbeherrschung zurück zu halten. Der Blick von Colleen, der ebenfalls auf mir liegt, ist der einzige tröstliche. An ihn klammere ich mich.
"I think. That's enought", höre ich Frau Jonson noch sagen bevor ich auf meinen Platz neben Colly in der zweiten Reihe stürze. Sie legt fürsorglich ihre Hand auf meine kalte und lächelt mich aufmunternd an. Der Versuch auch ein Lächeln zustande zu bringen misslingt mir und sie drückt tröstlich meine Hand.
Mit einem Ohr höre ich Frau Jonson zu, doch mit meinen Gedanken bin ich in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. So vergeht die restliche Englischstunde und auch die folgenden Unterrichtsstunden ziehen ungeachtet an mir vorbei. Wie Schatten in einer dunklen Neumondnacht.
Ab und zu reißt mich Colleen aus meinen Gedanken, damit ich dem Lehrer auf seine Frage antworten kann, aber nach der Antwort versinke ich wieder...
~★~
Mit halbgeschlossenen Augen tappe ich hinter Colly her und wünsche mir nie aufgestanden zu sein. Mein Schlafmangel in dieser Nacht macht sich langsam, aber sicher deutlich bemerkbar.
"Lou, kommst du jetzt oder schläfst du schon", lacht Colleen ausgelassen und dreht sich zu mir um. Der Abstand zwischen uns ist in den letzten Minuten ganz schön gewachsen. Mindestens acht Meter eher mehr, wenn ich schätzen müsste.
Ich versuche mir ein Lachen oder wenigens ein Lächeln zu entringen, doch es erweißt sich mir als unmöglich. Ich bin einfach zu müde.
Als wir nach einer gefühlten halben Stunde, in Wirklichkeit sind es warscheinlich gerade mal ein paar Minuten gewesen, im Speisesaal ankommen, sind schon fast alle Stühle, Bänke und Tische besetzt. Ein paar Schüler sitzen sogar schon auf dem Fensterbrett.
Seltsam! Sollte der Platz nicht normalerweise für alle reichen?
Ach. Auch schon bemerkt...
Verstörrt schaue ich zu Colly. Doch diese blickt sich ebenfalls verwirrt um. Anscheinend scheint sie es auch nicht zu verstehen, obwohl sie schon länger hier ist als ich.
Auf einmal werde ich von der Seite unsanft angerempelt und drehe mich gerade um, um mich zu beschweren als ich in die mattolivgrüngrauen Augen des Trampeltieres sehe.
Brian. Jetzt im Ernst?
Ich schnaube einmal und drehe mich sofort wieder um, in der Hoffnung, dass er es dabei belässt und uns in Ruhe lässt. Doch da habe ich meine Rechnung ohne Colleen gemacht, denn als diese Leander und Liam, die im Übrigen neben Brian hereingekommen sind, entdeckt, geht sie gleich zu ihnen.
Was geht denn bei der ab?
Das würde ich auch gerne wissen.
Kumpelhaft schlägt sie mit Liam und Leander ein, welche sie ebenfalls anlächeln. Ich bin eindeutig im falschen Film...Nur Brian hat einen herablassenden und verschlossenen Blick aufgesetzt. Sein Blick wandert zu mir und ich wende schnell mein Augenmerk auf die andere Seite des Raumes, in der zu meinem Leidwesen, allerdings nichts interessantes passiert.
„Hey Lou, was ist los? Komm doch zu uns", höre ich Colly rufen und drehe meinen Kopf gezwungener Maßen in ihre Richtung. Die drei Jungs und sie stehen ungefähr eineinhalb Meter von mir entfernt und schauen mich an.
Innerlich sträube ich mich zwar dagegen, trotzdem setzte ich mich in Bewegung und stelle mich zu ihnen, so dass wir einen geschlossenen Kreis bilden.
„Warum ist es heute hier so überfüllt? Normalerweise sind wir doch auf drei Speisesäale aufgeteilt", fragt gerade Colleen und Liam liefert ihr sofort eine Antwort: „Direktorin Jonson will heute irgendetwas verkünden. Deshalb sind heute die anderen Speisesäale geschlossen. Habt ihr das nicht mitbekommen?"
Geistesabwesend schüttele ich den Kopf. Was Johanna wohl so wichtiges zu verkünden hat?
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***PAUSIERT***Das unverwechselbare Leben der Lou Marple
Teen FictionLou Marple ist ein normales 16-jähriges Mädchen, in wessen Leben unvorhersehbare Dinge geschehen. Nicht das es schon genug wäre, dass ihr Vater auf unerklärliche Weise stirbt. Nein, nachdem sie auch noch Morddrohungen bekommt, scheint das Chaos in...