Kapitel 34 ~Angsthasen und Möchtegern-Schwächlinge

12 3 0
                                    

Kapitel 34 ~ Angsthasen und Möchtegern-Schwächlinge

Mein Herzschlag setzt gefühlt kurz aus.
Kann ich wirklich zustimmen, dazu bereit zu sein zu sterben?
Eine einzige Geste und der Tod klopft unweigerlich an der Tür?
Zwei Buchstaben und das Leben findet sein Ende?

Unbewusst habe ich mich entschieden und mein Körper sorgt für die richtige Reaktion.
Ich nicke.

"Ja", sage ich leise. Und stimme somit meinem Ende zu. Doch habe ich überhaupt eine andere Wahl?

Die Person hinter mir versteift sich. Anscheinend habe ich laut gedacht. Mit Leid erfüllter Stimme muss er mir die Wahrheit gestehen, die Sinnlosigkeit seiner vorangegangenen Frage. "Nein."

Ich warte auf den Schmerz, auf die Qualen, auf das Ende mit dem lauten Knall, aber es kommt nichts, stattdessen schließen sich zwei starke Arme um mich und die Person hinter mir zieht mich an sich. Es ist ein Gefühl der Vollkommenheit.  Und auch mir ist die Komik dieses Gefühls in dieser Lage nicht entgangen. Tief ziehe ich den männlichen Duft ein, so wie er nur wenige Minuten zuvor. Das kalte Eisen liegt nun auf meiner Brust. Krampfhaft kralle ich mich in das Oberteil der Person hinter mir.

"Wenn dann zusammen!"

"Wieso?"
Meine Stimme klingt kläglich, aber ich habe meinen Grund. Wieso zwei Menschen, wenn mit einem genüge getan?

"Das Wissen, dass ich dafür verantwortlich bin, diesen Verlust spüren zu müssen, ihn zu verkraften und ohne dich weiter zu leben, ist schlimmer als mit dir meinen letzten Atemzug zu nehmen."

Dämme brechen. Herzen schreien. Und zwischen drinnen ganz still und heimlich mein eigener See aus Tränen. Meine Selbstbeherrschung ist ausgeschöpft. Mehr und länger geht nicht.

Ich spüre ein heißes Rinnsal in meinem Nacken. Wieso tut er das, wenn er selbst es nicht verkraftet? "Warum", rufe ich verzweifelt. "Warum tust du dir das an", flüstere ich anschließend und spüre das Schwinden der Kraft aus meinen Beinen.

Und kurz bevor ich in Tränenaufgelöst zusammensacke schlage ich meine Augen auf.

Die zwei Arme umfangen mich immer noch. "Scht", höre ich ein leises Murmeln neben meinen Ohr und drehe leicht keinen Kopf. Meine Augen brennen und mein Hals ist trocken. Die mattolivgrüngrauen Augen sehen mir sanft entgegen. Eine Träne rollt meine Wange herab und hinterlässt eine nasse Spur. Schnell wische ich sie weg. Brian schaut mich nachdenklich an und löst sich schließlich wieder von mir. Sofort ziehe ich meine Decke etwas fester um mich, um die kalten Stellen an denen vorher seine Arme mich gehalten haben wieder zu wärmen. Meine Augen verfolgen jede seiner Bewegungen. Er räuspert sich leise. "Hattest du einen Albtraum, Lou? " Ich nicke leicht und versuche den aufkommenden Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken. Zusätzlich reibe ich mir auch über die Augen um die entlaufenen Tränen wieder einzufangen, sodass man sie nicht mehr offen sehen kann. Doch leider hat er sie bemerkt. "Weinen ist nichts, von was man sich selbst abhalten sollte, Kleine", sagt er mit ernster Stimme und schaut mich in gewisser Weise väterlich streng an. Einen Ausdruck, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe und so höre ich auf ihn und lasse meine Tränen laufen, fühle mich befreit von einer unsichtbaren Last und vielleicht auch von der Last meines eigenen Schwurs und schluchze mein Kissen voll, in dem ich mein Gesicht versteckt habe und trotzdem spüre ich immer die Präsenz meiner Rettungsleiter. Eine Hand, die mir sanft den Rücken streichelt und eine, die meine Haare voneinander trennt und ebenfalls eine tröstende Wirkung hat. Brian als Rettungsleiter, sowie auch in meinem Traum, denn ich bin mir mittlerweile sicher, dass es auch dort schon seine Arme waren, die mich umfingen.

Brian wartet bis ich mich beruhigt habe und erhebt sich anschließend von dem Bett. "Versuch noch einmal zu schlafen, kleine Lou, morgen ist Schule." Diese sanfte, erwachsene, elternhafte Seite an ihm erstaunt mich schon wieder, sanft nicke ich ihm zu. "Schlaf gut, Brian, und", kurz schlucke ich, "Danke." "Kein Problem." Bevor ich rot werde und er es sieht, drehe ich mich schnell mit dem Gesicht Richtung Wand. Was ist bloß los mit mir? Und was mit ihm? Innerlich hatte ich die ganze Zeit das stille Bedürfnis, ihm von meinem Traum zu erzählen und vielleicht auch von meiner Angst vor den Drohungen. Mir ist klar geworden, dass ich es jemandem anvertrauen muss. Ansonsten macht es mich fertig und somit leichter angreifbar. Colleen fällt hierbei weg aus einleuchtenden, triftigen Gründen, wie ich finde. Bleiben noch die anderen meiner "Freunde", doch auch keiner von ihnen hat mir in meinem Traum geholfen. Alle standen da und haben gejubelt, alle außer Brian und wie mir im Nachhinein einfällt Liam. Auch ihn habe ich nirgendwo gesehen. Aber reicht das aus um mich ihm wirklich zu offenbaren und anzuvertrauen. Ich bezweifle es.

Ein lautes Donnergrollen reißt mich aus meinen stummen Überlegungen. Der Regen erzeugt eine eindrucksvolle Geräuschkulisse und tanzt mit seinen Regentropfen auf der Außenseite der Fensterscheibe. Ein greller Blitz erhellt die sonst so dunkle Nacht und lässt mich kurz zusammen zucken. Im Stillen zähle ich mit.

> 21...22...23...24...25- <

Und schon ertönt das laute Poltern des Donners. Vorsichtig werfe ich einen Blick auf das Bett an der gegenüberliegenden Wand. Nichts rührt sich. Brian scheint schon eingeschlafen zu sein. Still bleibe ich einfach liegen und denke nach. Doch der nächste Blitz sorgt dafür, dass ich sofort wieder beginne zu zählen. Mal wieder merke ich, was für ein großer Angsthase ich doch bin. "Aber lieber ein ehrlicher Angsthase als ein Möchtegern-Schwächling." So hatte meine Großmutter früher immer gesagt. Und mit diesem Gedanken drifte ich in einen unruhigen Schlaf und fange sogleich an zu träumen. Diese Nacht wird sich ziehen, Kaugummi ist nichts dagegen.

***PAUSIERT***Das unverwechselbare Leben der Lou MarpleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt