Kapitel 17 ~ Sein heißt Dein
Am Abend. So circa gegen neun. Komme ich dazu mich an meinen Schreibtisch zu setzten und mir den Blätterstapel von Frau Jonson weiter durchzulesen. Gerade blättere ich durch den Stapel als mir ein Blatt entgegen kommt. Es muss wohl nicht mit festgeheftet worden sein. Doch als mir bewusst wird, was ich da gerade in der Hand halte und lese, klappt mir der Mund auf und ich öffne meinen Griff um das Blatt, so dass es langsam auf den Boden segelt und liegen bleibt. Soll das ein schlechter Scherz sein? Nein, dass kann nicht sein. Aber es muss so sein.
Verwirrung. Angst. Trauer. Panik.
Alles Gefühle die gerade in mir die Herrschaft übernommen haben. Langsam richte ich meinen Blick wieder auf die geschwungene, eigentlich schöne Handschrift auf dem Papier.
DEIN LETZTER TAG KOMMT BALD.
DIE LETZTE STUNDE HAT GESCHLAGEN.
SEINE SIND DEINE SÜNDEN.
DURCH MEINE HAND WIRD ER GERECHT.
SO WIRST DU DEIN ENDE FINDEN.Tränenblind springe ich von meinem Stuhl auf und renne aus dem Zimmer. Das Blatt nehme ich mit.
Das Blatt, dass so viel bedeutet. ZU viel bedeutet.~★~
Colleens Sicht
Ich bin gerade dabei die Hausaufgaben für den morgigen Schultag fertig zu stellen, als es an meiner Tür klopft und eine tränenüberströmte Lou in mein Zimmer gerannt kommt.
Normalerweise hätte ich jetzt einen Kommentar los gelassen wie 》Ich weiß, dass du neu bist und deshalb noch keine Hausaufgaben für morgen auf hast, aber du bist da die einzige. Natürlich darfst du mir gerne helfen.《 aber angesichts ihrer rotgeweinten Augen, der Panik und der Verzweiflung, die sich in ihnen spiegeln, ihrer zitternden Händen und der immer noch laufenden Tränen unterlasse ich es. So taktlos möchte ich nicht sein. Ohne ein weiteres Wort breite ich meine Arme aus und empfange eine zitternde Lou. Und ich muss mich korrigieren, sie zittert nicht nur an den Händen, sie zittert am ganzen Körper.
Ihren Kopf vergräbt sie an meiner Schulter, jedoch nicht ganz in meiner Halsbeuge, so dass ich meinen Kopf noch ungehindert bewegen kann. Motorisch streichele ich ihr den Rücken mit der einen und die Haare mit der anderen Hand. So hatte es mein Bruder früher immer bei mir gemacht. Früher...
Rückblick
Ich bin gerade mal zwölf. Mein Bruder ist fünfzehn und trotzdem wissen wir beide, dass unsere gemeinsame Zukunft sehr kurz sein wird.
Ich frage mich immerzu, wie es wohl wäre, wenn es nicht so wäre wie es ist. Klinkt kompliziert. Ich weiß, dass ist es auch.
Wie ist es einfacher Abschied zu nehmen?
Wenn man weiß, wann es ungefähr passiert, wie und warum.
Wenn man es nicht weiß und sich nicht darauf vorbereiten kann, aber den Moment sorgenfrei und gedanken verloren empfängt.
Oder wenn man weiß, dass es passieren wird und versucht den Gedanken erfolgreich zu verdrängen, auch wenn man weiß, dass es dadurch nicht weniger schlimm wird. Vielleicht meint man, dass man den Schmerz dann kürzer spürt und nicht so lange leiden muss. Doch eigentlich ist es egoistisch so zu denken, wenn man an den anderen denkt. An den, der das Ende vor Augen sieht. An den, der in diesem Fall die "Opferrolle" ein letztes Mal zugeteilt bekommt.
Er kann sich bei niemandem ausheulen. Mit niemamdem reden. Weil er immer versucht den Schmerz der Ausenstehenden zu lindern und so klein wie möglich zu halten.Ich muss ehrlich sagen, das Leben ist total ungerecht und deshalb bin ich froh, dass ich weiß, dass er sterben wird, auch wenn es traurig ist, weil ich weiß, dass er mit mir auf seiner letzten Etape nicht alleine sein wird.
Gerade liege ich auf der Wiese hinter unserem kleinen Haus und starre gedankenverloren in den Himmel. Es ist einer dieser unbeschreiblich schönen Momente, in denen ich meine Sorgen abwerfen kann und ein ganz normales zwölfjähriges Mädchen bin. Im Hintergrund höre ich das Öffnen und Schließen der Balkontür und die Schritte von großen Füßen im trockenen Gras. Ein leises Knistern, das immer näher kommt und neben mir verstummt. Mein großer Bruder lässt sich neben mich auf den Boden sinken und begutachtet ebenfalls den hellblauen Himmel. Eine kleine Wolke zieht über mir vorbei und ich versuche sie zu entschlüsseln. "Schau mal Julian, ein Drache", rufe ich fröhlich, als ich endlich weiß, was die Wolke darstellen soll. "Wohin er wohl fliegt", fragt Julian und bringt mich damit kurz zum Überlegen. "Zum Wolkenschloss oder in den Himmel, wo er die Engel besuchen kann", antworte ich mit den Fantasien einer Zwölfjährigen. "Hm. Vielleicht treffe ich ihn ja bald einmal", überlegt Julian traurig. Doch diese Trauer überhöre ich. "Schickst du mir dann ein Foto", frage ich aufgeregt und fuchtele mit den Armen. Doch Julian schüttelt den Kopf. "Nein Colleen, das werde ich dann nicht mehr können." "Aber, das ist unfair", jammere ich ihm die Ohren voll, ohne den Ernst der Aussage zu begreifen. "Weißt du Mäuschen, das Leben ist nun einmal ungerecht. Aber du kannst mir glauben, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche als zurück zu kommen und dir ein Foto von diesem Drachen zu zeigen."
Und in diesem Moment verstehe ich, dass er nicht mehr zurück kommen wird, wenn er einmal weg ist und diese Tatsache ist schlimmer als ein fehlendes Drachenfoto. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich beginne herzzerreißend zu weinen. Julian nimmt mich die Arme und setzt mich auf seinen Schoß. Sanft und behutsam streichelt er mir über Rücken und Hinterkopf. Ganz eng an ihn gekuschelt liege ich da und weine über die Ungerechtigkeit der Welt, während Julian das gleiche tut, nur still und fast unsichtbar.
Rückblick Ende.
Und jetzt mache ich das Gleiche wie mein Bruder damals für mich. Doch einen Unterschied gibt es. Ich weiß nicht, warum Lou weint.
"Alles wird gut", flüstere ich als sie stärker anfängt zu schluchzen, auch wenn ich nicht weiß, ob es stimmt.
Als sie sich langsam beruhigt und den Kopf hebt, öffne ich meine Umarmung leicht. Mit gesenktem Kopf reicht sie mir ein Blatt.
Ein Kloß macht sich in meinem Hals bemerkbar und weicht nicht mehr von der Stelle, sodass ich nach dem Lesen wortlos da stehe und sie anschaue.
Der Mensch, der so etwas schreibt, muss entweder irre sein oder im Herzen gebrochen.
Wie kann man einem Mädchen in diesem Alter eine Morddrohung dieser Art schicken.
Eines ist klar. Wir brauchen Hilfe und zwar dringend. Langsam führe ich Lou zu meinem Bett und setzte mich mit ihr auf die Bettkante. "Von wem ist dieser Zettel Lou", versuche ich einige Details ausfindig zu machen, doch sie schüttelt nur verzweifelt den Kopf und gähnt. Anscheinend macht diese Verzweiflung sie unglaublich müde. "Komm leg dich hin. Ich geh mir nur noch schnell die Zähne putzen", gebe ich ihr klare Anweisungen, die sie nach einem verwirrten Blick auch befolgt.
Ich glaube, wir brauchen in diesem Fall wirklich Hilfe, aber das muss bis morgen warten.
Und so lege ich mich nachdem ich meine Zähne geputzt habe, mich in mein Bett. Zu einer mir eigentlich völlig fremden Person, die mir aber schon in kurzer Zeit ans Herz gewachsen ist.
Mit vielen Sorgen und ein klein wenig Hoffnung schlafe ich neben Lou ein.
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Hier die Drachenwolke:
Bis baldLG
HarpaIsland ♥
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***PAUSIERT***Das unverwechselbare Leben der Lou Marple
Fiksi RemajaLou Marple ist ein normales 16-jähriges Mädchen, in wessen Leben unvorhersehbare Dinge geschehen. Nicht das es schon genug wäre, dass ihr Vater auf unerklärliche Weise stirbt. Nein, nachdem sie auch noch Morddrohungen bekommt, scheint das Chaos in...