Auf der Suche

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Mit zitternden Fingern starte ich den Motor der Cross, die zu meiner großen Erleichterung sofort anspringt. Der Motor heult so laut, dass ich Panik bekomme und zu schnell am Gashebel drehe - die Cross springt einen Meter nach vorne und stirbt ab. Nachdem ich tief durchgeatmet habe starte ich sie erneut, diesmal dauerhaft, und beschleunige langsam beim Wegfahren vom Grundstück.

Ich biege auf die Straße in Richtung Stadt, an deren Verlauf die Nebenstraße zum See abzweigt. Meine dunklen Haare werden vom kühlen Wind herumgewirbelt und ich weiß jetzt schon, dass es ewig dauern wird, sie zu entknoten, doch es ist mir egal. Ich brauche Hilfe für Tio, dessen Arm ich nur notdürftig mit Mullbinden verarztet habe, und die finde ich nur, indem ich danach suche.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmecke, um die Müdigkeit zu überwinden, während die schwachen Strahlen der Vormittagssonne auf meinem Gesicht tanzen nur unterbrochen von den Schatten der Bäume, die den Straßenrand zieren. Ich habe seit gestern früh nichtmehr geschlafen, was ich normalerweise ohne Energiedrink nicht aushalte und meine Augen brennen bereits unangenehm.

Ich hatte vor, in die Stadt zu fahren, zum Krankenhaus oder auch an die Medizinische Universität,  irgendwo wo ich Hilfe oder jemanden finde, der weiß, was zu tun ist. Doch als ich die Abzweigung zur Seestraße in der Ferne auftauchen sehe, zieht sich mein Herz zusammen. Ich muss wenigstens nachsehen... ob er noch dort ist. Ob er am Leben ist. Ob irgendeine Spur von ihm zu finden ist.

Doch jede Minute die ich an die Suche nach Matt verbrauche, bringt Tio näher an den Fiebertod. Oder ans Verbluten. Oder einen Zombieangriff. Auch wenn ich das Wohnzimmer verriegelt  und ihm Waffen dagelassen habe, könnten sie immer noch die Scheiben zertrümmern und in diesem Fall wäre er wohl kaum in der Lage, sich zu wehren.

In mir tobt ein Konflikt, ich lenke Richtung Stadt, doch werde immer langsamer, je näher ich der Seitenstraße komme. Soll ich, oder soll ich nicht? Vielleicht, schießt es mir durch den Kopf, ist Matt auch genau die Hilfe, die ich ohnehin benötige.

Im letzten Moment reiße ich den Lenker herum und schlittere mit quietschenden Reifen in die Nebenstraße. Ich gebe Gas und die Reifen drehen kurz durch, bevor das Profil greift und die Maschine vorschießt und die Steigung nimmt. Ich stoße einen Freudenschrei aus und unwillkürlich breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus.

In weniger als fünf Minuten könnte ich Matt wiedersehen. Meine Lippen brennen bei der Erinnerung an unseren Kuss und einen Moment lang schiebe ich Tio aus meinen Gedanken hinaus und fahre einfach noch schneller, weil es mir egal ist.

Es ist mir egal,  dass ich eigentlich einen Freund habe. Es ist mir egal, dass die  Welt jetzt apokalyptisch ist. Es ist mir auch scheiß egal, dass so ziemlich jeder den ich kenne inzwischen ein gehirnefressendes, halb verwestes Monster sein könnte. Ich will einfach nur noch zu Matt.

Und schon sehe ich das Glitzern der Wasseroberfläche im Sonnenlicht, lege eine wenig elegante Vollbremsung hin und werfe die Cross regelrecht zu Boden, stolpere und falle hin. Rapple mich wieder auf, renne weiter, lachend und mit Tränen in den Augen.

Und ich sehe die Insel, völlig abgebrannt und nur noch ein schwarzer Kohleberg mit einigen Baumstämmen. Orientierung suchend drehe ich mich in Kreis, verlasse die Straße und bahne mir einen Weg ins hohe Gras, auf der Suche nach Matt.

Ich sehe das niedergedrückte Gras und jede Menge Blut. Mehr, als er aus den Wunden die Tio ihm beigebracht hat verlieren hätte dürfen. Mein Herz setzt einen Schlag aus, der Platz an dem ich ihn zurückgelassen habe, ist leer.

Tränen rinnen über mein Gesicht und obwohl meine Sicht verschwimmt kann ich deutlich vor mir sehen, wie er in der Nacht angegriffen und gebissen wurde. Meine viel zu lebhafte Fantasie malt sich in allen blutigen Details seine spastischen Anfälle aus, wie die der Menschen vor meiner Schule, die gebissen wurden, ich sehe vor mir wie seine wunderschönen grünen Augen verblassen, sich verdrehen oder sonst was, und er mit emotionslosem Blick aufsteht und einfach davon geht, ohne eine Seele und ohne eine Erinnerung an sein Leben, seine Schwester oder auch an mich.

Das ist der Moment,  in dem ich einfach nichtmehr kann. Wenn nichteinmal Matt es schaffen konnte, wie dann wir?

Ich breche zusammen und weiß nichts mehr.

Foto: Sonnenaufgang

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