Geküsst

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Und in all meiner Verzweiflung, der Verzweiflung, die zu lange gedauert hat, schlinge ich meine Arme um seinen Hals und ziehe ihn zu mir herunter.

Wiederstandslos lässt er es geschehen, wehrt sich nicht, als ich meine Lippen auf seine presse. Sein Arm schließt sich wie von selbst enger um meine Hüfte und ich schmiege mich eng an ihn.

Meine Hände wandern seinen Rücken hinunter, die angespannten Muskeln entlang, zitternd vor Kälte und Erregung.

Seine Hand liegt plötzlich auf meiner Brust und ich keuche, als er sie sanft drückt, bis er eine Sekunde später schon wieder loslässt, meine Hände abschüttelt, auf dem Absatz kehrt macht und ins Baumhaus stapft.

Nachdenklich auf meiner Lippe kauend starre ich ihm hinterher.

Es ist der erste Kuss, den ich in meinem Leben wirklich gespürt habe. Ich habe bei Tio immer zu viel nachgedacht. Jedes mal, selbst beim ersten Kuss, war mein Kopf voller Gedanken. Müsste ich nicht mehr von ihm schmecken? Wieso stoßen unsere Zähne immer zusammen? Seine Bartstoppel jucken unangenehm. Beobachtet uns jemand?

Aber jetzt, hier, am Ende der Welt mit Matt, war mein Kopf völlig leer. Das ist er immer noch. Es fällt mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und mich dazu durchzuringen, ein Shirt überziehen. Meine feuchten Haare kringeln sich zu Locken und ich versuche mit gespreizten Fingern, sie glatt zu streichen.

Ich wasche die alten Klamotten aus und hänge sie über ein Geländer, bevor ich zurück ins Baumhaus schlüpfe und nach oben klettere.

Mein Zahn beginnt langsam wieder zu schmerzen und auch die Kälte kriecht zurück in meine Glieder.

Ich werfe einen Blick in eines der Männerzimmer und schnappe mir einen hellgrauen XXL-Pullover, in den ich mich kuschle.

Dann setze ich mich im ersten Stock an das Loch in der Wand und starre hinaus in die weiße fluffige Welt.

Jackie's P.O.V.

Jhonnys Arm liegt um meine Schulter, Sara lehnt sich an meine Seite und in meinen Händen halte ich einen kleinen Strauß mit Wiesenblumen.

"Saskia war ein wunderbares Mädchen, in unser aller Herzen schon nach der kurzen Zeit in der wir sie kannten unglaublich wichtig", tönt Tims Stimme über unsere Köpfe hinweg.

Jhonny meinte, es würde gegen die Trauer helfen. Ich finde nicht, dass ich zu sehr trauere, doch er hält mich für deprimiert und abgeschottet. Es tut weh, das zu hören.

Ich mache das hier vor allem für ihn. Wenn es ihm hilft, mich so hinzunehmen, wie ich bin, soll es so sein. So kann ich im Nachhinein wenigstens sagen, ich hätte es versucht und ihre Vorschläge angenommen.

"Asche zu Asche, Staub zu Staub", man merkt genau, wie wenig Ahnung Tim von dem hat, was er tut. Er war bevor alles angefangen hat Ministrant in der Kirche unserer Stadt und hat auch bei Begräbnissen geholfen, weshalb wir ihn ausgesucht haben, um Saskias Scheinbegräbnis abzuhalten.

Ich schließe die Augen und beiße mir auf die Wangeninnenseite. Ich will, dass es vorbei ist. Ich will nicht, dass Tim uns der Reihe nach aufruft, um unsere Erinnerungen an meine tote Schwester zu teilen.

Dennoch höre ich zu. Höre jedem von ihnen zu, wie sie ein paar Worte sagen über das kleine Mädchen mit der scharfen Zunge, die es immer wieder geschafft hat, ein Lächeln auf unseren Lippen entstehen zu lassen, selbst in den ersten Wochen, in denen wir über so viele Verluste engster Verwandter und Freunde hinwegkommen mussten.

Ich lausche den Geschichten, den kurzen Geschichten, die so kurz sind weil keiner von ihnen sie gekannt hat. Ich habe sie gekannt, ja das habe ich, besser als irgend jemand sonst auf dieser beschissenen Welt. 

"Jackie?", ruft Tim mich auf und steigt von dem Stuhl herunter. Ich gehe mit steifen Schritten nach vorne und stelle mich hinauf, schließe die Augen, versuche alles und jeden hier zu vergessen und denke an meine kleine Sassi.

"Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem sie geboren wurde", sage ich mit tragender Stimme, die die ganze Halle auszufüllen scheint. Kein Flüstern wird über meine Lippen kommen. "Ich saß am Balkon und habe gemalt - ich habe als kleines Mädchen sehr viel gezeichnet und gemalt - als ich Mama schreien hörte. Ich will wirklich nicht die Wassergeburt schildern, das will sicher niemand hören...", ein paar leise Lacher dringen an mein Ohr. "... Aber als ich Sassi dort in den Armen meiner Mutter liegen sah, mit ihren riesigen blauen Kulleraugen und der eigenen Faust im Mund, war das einer der schönsten Momente meines Lebens"  Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich stocke. Ich werde nicht weinen.

Jetzt ist es ganz still, kein Lachen, kein Husten, kaum ein Atmen ist zu hören. Ich würde ihnen so gerne mehr erzählen. Verhindern, dass meine Kleine  vergessen wird. Doch ich kann nicht. Ich kann nicht mehr weiterreden. Also verstumme ich.

Die Zombieapokalypse und was das Leben sonst so mit sich bringtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt