Tagsüber

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Ich lasse zu, dass er aufsteht und durch den Raum geht. Mein hämmerndes Herz ignorierend richte ich mich auf und sehe mich um. In der Mitte des Raumes steht eine richtige Feuerstelle und ich verstehe endlich, wieso es keine ordentlichen Wände oder Boden beziehungsweise gar keine Decke gibt. So kann Asche aus dem Feuer nach unten fallen und der Rauch nach oben abziehen. Wer immer das hier gebaut hat, was ein verdammtes Genie.

"Hunger?", fragt Matt und ich werfe einen Blick in den Topf, in dem Wasser mit Spaghettis kocht. Mein Magen knurrt, doch ich bin zu stolz, um ihn um Essen zu bitten.

Matt zieht eine Augenbraue hoch und sieht mich eine Weile einfach nur an. Von seinem eindringlichen Blick wird mir unwohl zumute und ich drehe mich um, sehe durch die Gitterwände nach draußen in den Wald.

Nur nicht nach unten Richtung Boden sehen...

"Hier", Matt drückt mir einen Teller voller Nudeln in die Hand und setzt sich selbst mit einem auf eine Kommode am Rand des Raumes.

Ich setze mich ihm gegenüber auf einen Hocker und beginne zu essen. Es schmeckt ziemlich fade und die Nudeln sind viel zu lange gekocht, sodass sie in meinem Mund zu pampigen Matsch zergehen.

"Total lecker", bringe ich hervor und unterdrücke ein Würgen.

Trotzdem habe ich unglaublichen Hunger und schlinge die Portion in wenigen Minuten hinunter.

Matt isst immer noch und ich beobachte ihn unauffällig dabei, wie er sich Gabel um Gabel des seltsamen Matsches in den Mund stopft.

Matt stellt unser Geschirr ohne ein Wort zu sagen auf die Kommode.

"Willst du mich echt anschweigen?", frage ich ihn gereizt und stelle mich ihm in den Weg, als er den Raum verlassen will. Das Metall des Bodens scheppert und obwohl ich gerade noch verhindern kann, dass meine Augen nach unten schnellen, verkrampft sich mein Magen spürbar.

"Ich schweige dich nicht an", sagt er und sieht mich dabei mit nicht deutbarem Gesichtsausdruck an.

"Aber du redest auch nicht mit mir", stelle ich fest.

"Wir reden doch gerade", widerspricht er.

"Nicht gleich so motiviert", ich verdrehe die Augen und auf einmal liegen seine Lippen auf meinen und ich will ihn zu mir heranziehen, als er mich auch schon loslässt.

Seine Augen funkeln.

"Komm damit klar, dass das unser Letzter war", sagt er und drängt sich an mir vorbei aus dem Raum.

Auf einmal schießen mir Tränen in die Augen. Tio. Ich habe Tio vergessen. Er ist schon einen ganzen Tag alleine dort, schwer verletzt und auf dem besten Weg zu verbluten.

Ich schluchze laut auf und presse eine Hand vor den Mund, während Tränen über mein Gesicht laufen.

Wie konnte ich meinen Freund vergessen? Jeder meiner Gedanken sollte bei ihm sein!

Ich renne raus, schnappe mir im Vorratsraum ein erste Hilfe Pack und klettere nach unten in den ersten Stock.

Ich muss so schnell wie möglich zurück zu Tio, doch ich stehe vor einem eindeutigen Hindernis. Wie soll ich von dem Baum runterkommen?

Ich nehme all meinen Mut zusammen und lege die Hände an das Seil, an dem der Korb hängt, mit dem Vic mich hinaufgezogen hat.

Das Prinzip hinter dem Seilzug zu erkennen traue ich mir nicht zu, doch ich war in der Grundschule eigentlich immer sehr gut im Seilklettern. Zumindest auf den ersten zwei Metern, bis mir schlecht wurde.

Ich klammere mich an das Seil und springe vom sicheren Baumhausboden aus weg  und zum Seil, an welches ich mich mit beiden Füßen festklammere.

Mir ist speiübel und mein ganzer Körper zittert vor unterdrückter Panik, doch der Gedanke an Tio lässt mich langsam Zentimeter für Zentimeter nach unten rutschen. Okay, die Schwerkraft ist auch mitbeteiligt.

Nach zehn Metern fließen Tränen über mein Gesicht und das Seil schwingt immer weiter hin und her.

Ich knalle voll gegen den Baumstamm und dumpfer Schmerz schießt meinen Rücken hinauf bis zum Nacken.

Ein leises Stöhnen entflieht meinem Mund und ich klammere mich noch fester an das Seil.

Wenn ich loslasse stürze ich vierzig Meter in die Tiefe.

Im Schimmbad traute ich mich noch nie auf den Drei-Meter-Turm, und dort lag Wasser darunter.

Ich fasse mit einer Hand weiter nach oben. Habe ich genug Kraft,  um mich ganz hochzuziehen?

Und wenn ich es bis nach oben schaffen sollte - was stark zu bezweifeln ist - wie soll ich dann zu Tio kommen?

Mit dem Gedanken an seine tiefen blauen Augen hänge ich unschlüssig am Seil.
Toll Irina, das hast du wieder mal super gemacht, zischt mein Gehirn. Welcher Teil des Gehirns ist eigentlich für Sarkasmus zuständig? Der Hypothalamus?
Ist mir ziemlich egal, kreischt ein anderer Gehirnteil, dem klar geworden ist, dass wir vermutlich bald sterben werden.

Gott, jetzt denke ich schon von mir selbst in der Mehrzahl. Toll, echt toll.

"Was machst du da?", höre ich ein schallendes Lachen von über mir.

Saskias P.O.V.

Ich öffne vorsichtig die schwere Tür der Kirche und schlüpfe in den kühlen Innenraum.

Mama hat uns sehr oft in die Kirche gebracht, seit wir ganz klein waren. Jackie hat es nie gemocht und immer wieder auf verschiedenste Arten versucht, sich zu drücken.

Ich dagegen ging immer gerne hierher. Das Gebäude mit wunderschönen Deckenmalereien auf elegantem Kreuzrippengewölbe und den goldverzierten Gemälden an den Wänden gab mir immer das Gefühl, zu Hause zu sein.

Ich tapse durch den Mittelgang und lasse mich in einer der Kirchenbänke nieder.

Die kühle Luft legt sich auf die nackte Haut meiner Unterarme, ich verschränke die Finger ineinander und lege die Stirn auf die Fingerknöchel.

Die Zombieapokalypse und was das Leben sonst so mit sich bringtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt