Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um sie vor dem herabfallenden Regen zu schützen. Dort oben, zwischen den mächtigen Ästen eines jahrhundertealten Kastanienbaumes, prangt ein prunkvolles Baumhaus. Von hier erkenne ich nur knapp, dass es mindestens zwei Stockwerke haben muss und über den ganzen Baum verbaut ist. Hier ragt eine Art Turm hoch, dort hängt ein Holzgestell unten an einem Ast, das aussieht als würde es bei der kleinsten Berührung in sich zusammenfallen.
"Ach du heilige Scheiße", murmle ich.
Vic zuckt die Schultern. "Willst du nun zu deinem Geliebten oder nicht?"
Ich kneife wütend die Augen zusammen, doch wage ich aus Angst, sie könne mich nicht hinauf lassen, nicht, sie zu beleidigen.
"Ja, bitte", presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor. Vic lacht ein glockenhelles und irgendwie irres Lachen, tritt zum Baumstamm und zieht einmal ruckartig an einem Seil, woraufhin von fünfzig Metern Höhe ein hölzerner Korb herabfällt und wenige Zentimeter über dem Boden zum Stillstand kommt.
Vic nickt mir auffordernd zu, und um nicht feige zu wirken steige ich in den wackeligen Korb, der unter meinem Gewicht knarrt und ächzt.
Ich kralle mich am Holz fest, als Vic ihre Füße unter eine Wurzel klemmt und mit aller Kraft an dem Seil zieht, das wohl oben an einer Winde befestigt sein muss, denn der Korb bewegt sich stetig bergauf.
Ich würde Vic gegenüber niemals zugeben, dass ich schreckliche Höhenangst habe, und während mir die Tränen der Panik in die Augen steigen und sich Holzsplitter in meine Finger graben, starre ich nach oben in Richtung Baumhaus.
Das Einzige was mich davon abhält, loszuschreien und endgültig in Panik auszubrechen, während der Erdboden von Sekunde zu Sekunde weiter unter mir liegt ist der Gedanke an Matt, der verletzt irgendwo da oben liegt, und der mir vielleicht helfen kann, was Tio angeht. Oder zumindest rechtfertige ich so meine Sehnsucht nach ihm, auch wenn meine Lippen dabei immer noch glühen.
Es kommt mir vor wie Stunden, als ich endlich oben ankomme und ganz vorsichtig den kleinen Spalt zwischen Korb und mehr oder weniger sicherem Holzboden übertrete.
Ich sehe mich um, doch der etwa sechseckige Raum, in dem ich mich befinde, ist leer. Rechts von mir führt eine Leiter nach oben, vor mir gelangt man durch eine schräg nach unten führende Röhre in einen dunklen Raum und links geht eine Stiege in die Höhe, während in der Mitte des Raumes eine Stickleiter von oben durch ein Loch herein hängt. Matt ist nirgens zu sehen. Draußen lässt der Regen langsam nach und es tröpfelt nur noch leicht, meine Haare allerdings kringeln sich furchtbar in der kühlen Luft, während sie zu trocknen beginnen.
Ich knie mich hin und krieche an den Rand des Holzbodens, von wo aus ich mit stark klopfendem Herzen einen Blick nach unten werfe - wo Vic wie eine Katze um den Baum herum wuselt, immer höher nach oben. Ich verdrehe genervt die Augen - muss sie auch noch klettern können?
Sie ist allerdings immer noch vierzig Meter entfernt, also entschließe ich mich, nach Matt zu suchen. Ich entscheide mich spontan für den dunklen Gang nach unten. Er ist so niedrig, dass ich mit hinlege und mit den Beinen voran nach unten rutsche.
Das Holz ist von jahrelanger Benutzung glatt geschliffen und gegen meiner Erwartungen bleibe ich nicht hängen, sondern rutsche mit zunehmender Geschwindigkeit voran, bis ich wenige Sekunden später voll gegen eine Wand knalle.
"Aaah", stöhne ich und reibe mir über die schmerzenden Knie.
"Hallo?", dringt eine kratzige Stimme aus der Ecke des Raumes, den ich nach dem dumpfen Klang als eher klein einschätze, während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnen.
Durch wenige schmale Ritzen gelangt gedämpftes Licht in die Kammer, und als ich versuche aufzustehen, knalle ich mit dem Schädel gegen die Decke. Dumpfer Schmerz breitet sich langsam aus, den ich ignoriere und gebückt und an Decke und Wand entlangtastend bis zu dem Schatten gehe, der dort in der Ecke liegt.
"Hei Matt", flüstere ich schüchtern und lasse mich neben ihm nieder.
"IJ", murmelt er und seine Stimme klingt verrucht als hätte er tagelang nicht gesprochen.
Seine linke Hand hebt sich und er streicht mir das gewellte Haar aus dem Gesicht, legt die Hand vorsichtig an meine Wange, genau dort in der Nähe des Mundes, wo er mich geschlagen hat, liegt nun sein Handballen, seine Fingerspitzen reichen bis zu meinem Haaransatz. Ich suche seinen Blick, doch er starrt meinen Mund an.
Dann zieht er die Hand ruckartig zurück und rutscht so weit von mir weg, wie es der enge Raum zulässt.
"Verschwinde", knurrt er.
Mein Herz zieht sich zusammen und ich öffne entsetzt den Mund, will irgendwas sagen, egal was, doch ich finde einfach keine Worte.
"Hau ab, Irina!", brüllt er und seine Stimme ist so scharf und schneidend, dass ich ein Stück wegrutsche, ohne es zu wollen. Ich will seine Körperwärme neben mir spüren und ihn berühren können, doch ich sehe ihn kaum.
Keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte. Einem innigen Versöhnungskuss, einer Entschuldigung für den Schlag?
Da fällt mein Blick auf seine rechte Schulter ... und den in Bandagen gehüllten Stumpf, der dort hervorragt, wo sein Arm sein müsste.
"Was ... wo.. wie ist dein...", stottere ich und kann den Blick nichtmehr von den blutigen Verbänden wenden.
"Ich wurde gebissen", erklärt er bitter, und als ich den Blick hebe und seine Augen in der Dunkelheit ausmache, sprühen sie vor Hass.
Da wird mir klar, dass es an mir ist, mich zu entschuldigen. "Jemand hat mich hier hergebracht und ihn abgesägt, keine Ahnung wer, bin erst vor ein paar Minuten aufgewacht"
"Oh Matt, es tut mir so leid", Tränen steigen mir in die Augen und ich will ihm eine Hand auf die Schulter legen, ihn irgendwo tröstend berühren, doch ich traue mich nicht.
"Halb so wild", grinst er und seine Stimme trieft vor Sarkasmus. "Ich muss doch nur lernen mit links zu masturbieren"
Ich starre ihn verdattert an, als ich ein Geräusch aus dem sechseckigen Raum höre. Vic. Das Mädchen, das ihm den Arm abgeschnitten hat.
Ich wirble herum und zwänge mich durch den engen Schacht.
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Die Zombieapokalypse und was das Leben sonst so mit sich bringt
HorrorIrina ist 16, Einzelkind (also Verwöhnung pur) hat eine tolle beste Freundin, einen liebevollen, sexy Freund und gehört zu den beliebtesten Leuten an der Schule. Ihr Leben wäre eigentlich perfekt, doch eins macht das ganze kaputt - wieso muss ausge...