07 - Schlafmangel und unerreichbare Nähen

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Mittwoch, 7. Dezember

Nach einer viel zu kurzen Nacht wachte ich auf. Ich warf einen Blick auf meinen Wecker – und bereute es sofort wieder. Meine Beine gingen automatisch ins Bad und ich stellte mich unter die Dusche. Mein Körper wusste, was ich genau jetzt brauchte; eine heiße Dusche.

Ich hatte nur vier Stunden geschlafen.

Denn immer wenn ich meine Augen schloss, erschien das Bild von ihm.

Wie er mich angesehen hatte, als würde ich das einzige im ganzen Universum sein, dass gerade wichtig war. Als würde er sich nur, voll und ganz, auf mich konzentrieren. Wie er sein engelsgleiches und doch in dem Moment teuflisches Grinsen nicht verbergen konnte, als ich gewimmert hatte.

Wie er mir danach in die Augen sah. Immer noch in unserer Welt versunken, in der wir alleine waren. Glücklich hat er ausgesehen, und fast schon zufrieden, da war ich mir sicher.

Wie er nach diesem scheinbar unendlichen Moment realisierte, was passiert war (was ich bis jetzt noch nicht konnte). Und wie er sich danach in Null Komma Nichts aus dem Staub gemacht und mich benommen stehenlassen hat. Mich ansah, als hätte er jemanden umgebracht.

Quasi hat er das ja auch, meldete sich wieder meine innere Stimme, und zwar dich. Du bist ja allein schon wegen seinen Blicken gestorben!

Ohne es richtig wahrzunehmen ging ich fertig (und das in mehreren Sinnen) zur Schule.


Während des ganzen Unterrichts ließen mich meine Gedanken nichts mitbekommen. Die gestrige Situation spukte in meinem Kopf herum. Ich hielt meine Finger immer wieder auf die Stelle an meinem Hals, die er mit seinen Lippen berührt hatte.

Ich wusste nicht, was ich davon hielt. Wie ich diese Situation fand oder einschätzen sollte.

Und noch schwieriger war die Frage: Wieso ist er danach einfach weggelaufen?

„Leonie?" Langsam und desinteressiert blickte ich in das Gesicht unseres Mathematiklehrers. Er sah mich durchdringend an, wollte irgendeine Lösung von mir haben.

Kurz ließ ich meinen Blick über die Tafel schweifen. „Minus 54", gab ich schlicht von mir und er sah mich noch vier weitere, schier endlose Sekunden lang an. Dann ging er zur Tafel hin und schrieb das Ergebnis hin, was zu meiner Erleichterung richtig war.

Dann können wir uns ja wieder den wichtigen Dingen widmen.

Ich wollte aber nicht mehr!

Ich wollte keine weitere Sekunde mehr das Geschehnis analysieren. Ich hatte schon viel zu lange darüber nachgedacht. Ich wollte einfach nur schlafen!

Auch Melissa und Jana bemerkten meine undefinierbare Laune, die, wie auch immer, weder positiv noch negativ war. Sie sprachen mich nur am Anfang des Tages ein paar Mal an, und als ich jedes Mal mit wenigen Worten antwortete, gaben sie es auf. Sie drängten mich auch nicht, ihnen irgendetwas zu erzählen, auch wenn ich ihnen ansah, wie interessiert sie waren. Ihnen brannte diese eine Frage auf der Zunge; Was war gestern passiert?

Wenn ich das wüsste.

Ich wusste es schlicht und einfach nicht. Ich hatte keine passende Antwort, also mussten sie wohl oder übel warten.

**

Es war, als ginge ich durch den Tag, ohne irgendetwas zu fühlen. Es war einfach zu kompliziert.

Doch als ich vor der Tür zum Trainingssaal stand, verschwand diese Gefühlslosigkeit. Alles überkam mich und ich war sauer. Ich war tierisch sauer, dass er mich einfach hatte stehen lassen.

24 Tanzschritte | Adventskalender 2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt