Kapitel 4

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An diesem Tag hatte Aiko beschlossen, ihre Auffassung von „Normalität" in den Wind zu werfen.

Sie betrachtete das kleine Stück Papier in ihrer Hand.

„Das ist eine Karte. Übergib sie dem Schlossherren „Shin". Komm dann schnellstmöglich wieder hierher zurück."

Mehr nicht. Das war's an Erklärung.

Nachdenklich wendete sie den kleinen Umschlag in ihrer Hand. Was mochte sich wohl in ihm verbergen.

Eine Karte...wohin? Ein fernes Land? Ein versteckter Schatz?

Sie musste tatsächlich ein wenig lachen und drückte ihren Schatz an ihre Brust. Sie träumte, sie würde diesen Umschlag öffnen. Sie würde eine Karte sehen. Eine unglaubliche Möglichkeit. Und ihr traum-Ich ergriff sie.

Es sprang aus dieser Kutsche und rannte davon. Weit weg in ein fernes Land. Unentdeckt und unabhängig.

Dort würde sie in Frieden leben können. Dort würde sie frei sein.

Mit Wiesen voller Blumen. Frische, satte Wälder, klare Flüsse und weite Meere.

All dies auf ihrem eigenen Fleckchen Erde. In ihrer eigenen Welt. Ohne Eltern, ohne Mann, einfach nur Glücklich.

Doch irgendwann kommt für jeden die Zeit aufzuwachen. Für Aiko war dieser schreckliche Moment gekommen, als die Tür der Kutsche geöffnet wurde und man sie herausbat.

Mit gleichgültiger Miene betrachtete sie den Sitz dieses Shin.

Nichts Besonderes, schoss es ihr sofort durch den Kopf.

Es war weder so prachtvoll wie das Schloss ihrer Eltern, noch so finster wie Narakus.

Es war mit billigem Holz erbaut worden. Wahrlich von untalentierten Handwerkern ohne jegliche Phantasie. Nach etlichen Jahren hatte man offenbar versucht die Gemäuer irgendwie noch zu retten. Mit frischem Holz, Farbe, Verzierungen, leider vergebens. Sie sah nach oben und war tatsächlich froh, dass das Dach relativ Stabil und dicht aussah.

Auch das Personal passte zum Schloss. Alle hatten sie hagere und strenge Gesichtszüge. Es sah so aus, als hätten sie sich die größte Mühe gegeben, doch an ihrer Kleidung konnte Aiko, durch die jahrelange Schulung ihrer Mutter, unzählige Fehler und Ausbesserungen erkennen.

Doch standen sie stocksteif da und wagten keinen Blick auf die Prinzessin zu werfen. Staub wirbelte auf, als sie den Boden berührte und sie runzelte die Stirn.

Die Wachen zuckten zusammen und beäugten sie wie gejagte Hasen aus den Augenwinkeln. Sie seufzte und strich sich den Kimono glatt. Sie hatte nun wirklich keine Zeit oder Lust sich mit denen zu beschäftigen. Schließlich sollte sie so schnell wie möglich zum Schloss zurückkehren.

Gedankenverloren setzte sie ihren Weg zur Mitte des Hofes fort. Flankiert von zwei Wachen und verfolgt von mindestens 5 Männern.

Warum mache ich das hier überhaupt? Warum hat er mich geschickt? Ich bin doch nicht seine Dienstbotin!

Offenbar hatte sich ihr Blick zu sehr verdüstert, sodass ihrer Gefolgschaft bereits der Schweiß von der Stirn lief. Erneut kam ihr der Gedanke von neulich. Ihre gesamte Erziehung beruhte auf Erhabenheit. Auf Göttlichkeit. Doch sie hatte erfahren wie sie wirklich auf die Menschen wirkte.

Ich mache ihnen Angst. Sie halten mich für ein Monster.

Sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte kein Monster sein! Sie wollte niemandem schaden!

Das Gift in ihrer SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt