Zoey's POV
Ich schloss meine Augen und zog die Sommerluft ein. Der Rasen unter mir schmiegte sich an meinen Körper. Ein Wind wehte, meine Haare flogen durcheinander, doch es interessierte mich nicht.
Mein Kopf war leer, ich fühlte nichts mehr.
Ich fühlte nichts mehr, schon seit zwei Wochen.
Heute vor zwei Wochen, saß ich im Krankenhaus. Wartend, hoffnungsvoll. Jetzt lag ich hier auf der Weide, vor dem Anfang eines Waldes am Rand von Köln. Ich lag hier, weil ich hier alleine war. Weil ich hier nicht von allen zugeredet wurde. Weil man mich hier nicht überforderte, oder mit Dingen konfrontiert wurde, die mich nicht interessierten.
Die Sonne schien mir ins Gesicht und ein angenehmer, dennoch kühler Wind wehte. Es war so, als würde der Wind mir alles sagen wollen, was ich gar nicht wissen möchte. Ich soll' aufstehen, zu meiner Familie. Ich soll' nicht an mich denken. Doch es war das erste mal in meinem lächerlichen Leben, dass ich mal an mich dachte.
Mein weißes Sommerkleid würde bestimmt bald Grasflecken bekommen, doch auch dies war gerade unwichtig. Wo ich meine Schuhe hingepfeffert hatte, war mir auch egal. Ich genoss die Einsamkeit, obwohl ich früher lieber in Gesellschaft war.
Zwei Wochen war es nun her, seitdem ich nicht mehr darüber nachdachte, was ich tat. Ich lebte spontan und monoton in den Tag hinein, für mich gab es keinen Grund zum für die Schule lernen, oder mich mit Freunden zu treffen. Spaß zu haben, zu lachen. Zu weinen, traurig zu sein. Was hatte das alles überhaupt für einen Sinn?
Hat unser Leben überhaupt ein Sinn?
Ich kam mit Maddie's Tod klar. Mir war seit Jahren bewusst, dass es irgendwann passieren würde. Doch jetzt, wo ich nicht mehr ins Krankenhaus kam und meine kämpfende Schwester mich empfing, als wäre sie nicht krank, war mir bewusst geworden, wie sehr ich sie eigentlich brauche. Ich verstand den Tod. Ich verstand, wieso sie irgendwann keine Spende mehr wollte. Ich verstehe nur nicht, wieso Menschen sterben müssen. Wieso bekommen bestimmte Menschen, nur so wenig Zeit um zu leben?
Ich setzte mich auf und pflückte ein Gänseblümchen. Ich betrachtete es.
Maddie hatte nur zwölf Jahre gelebt. Trotz ihrer Krankheit, die ihr die ganze Kindheit kaputt gemacht hat, lebte sie. Sie hat wunderbar gelebt! Sie hatte Josu und mich. Zwar nur ihre Adoptivgeschwister, aber wir begleiteten sie ihr Leben lang und wir liebten sie. Mit keinem Menschen sprach ich so viel über meine Probleme als mit ihr. Mit keinem Menschen hatte ich so viel Spaß wie mit Maddie und Josu. Wir stritten uns oft. Fast ständig. Aber Maddie's Krebs schweißte und mehr zusammen, als gedacht.
Sie hatte Freunde, die sie regelmäßig im Krankenhaus besucht haben. Die ihr Hausaufgaben gebracht haben, mit ihr gelernt haben. Sie nach Chemo Therapien aufgemuntert haben.
Ich weiß auch, dass sie in einen Jonas verliebt war. Er ging in ihre Klasse. Es tut mir leid, dass sie niemals wissen wird, ob er vielleicht auch was für sie empfindet. Und er wird nie erfahren, dass Maddie sich in ihn verknallt hatte.
Sie hatte Eltern, die sie liebten und alles für sie getan hätten. Max hat sie von ganzem Herzen geliebt, und ich weiß, dass er sie immer mehr geliebt hatte, als mich. Doch es war okay. Ich weiß auch, dass ich nur um sie zu retten adoptiert worden war. Wie mein Leben abgelaufen wäre, wenn ich nicht ausgerechnet von Max und Luca adoptiert worden wär'. Ich würde jetzt nicht trauern. Ich würde jetzt nicht am liebsten weinen wollen.
Aber weinen ist in Ordnung. Ich hatte kein einziges Mal in Anwesenheit meiner Familie wegen Maddie's Tod geweint.
Max fiel ihr Tod am schwersten. Er sperrte sich ein, redete mit niemand. Nicht einmal mit Luca. Die Beerdigung war vorhin erst gewesen. Seit dem, lag Max zuhause in seinem Bett und schwieg. Die einzigen, die wirklich weiterlebten, waren Luca und Josu. Luca probierte, für uns alle dazu sein. Er zerbrach innerlich, ich wusste es. Er war einer der sensibelsten Menschen, die ich kannte. Doch er hielt durch, da er wusste, dass wir damit nicht so gut umgehen konnten. Josu ging weiter hin normal zur Schule, spielte Basketball und versuchte den Tod zu verarbeiten. Doch er war still.
Wir alle waren still.Unser Haus war still.
So fühlt es sich also an, wenn ein naherstehender Mensch stirbt? Darüber werden so viele Filme gedreht und Bücher geschrieben? Alles was darin vorkommt, ist vollkommen untertrieben. Man kann das Gefühl nicht mal ansatzweise beschreiben. Nicht in einem Satz. Oder in einem Wort. Außer vielleicht...
anders.
"Hey."
Ich öffnete meine Augen. Luca stand vor mir. "Du bist sofort abgehauen", seufzte er und ließ sich neben mich in das hohe Gras fallen. Nach der Beerdigung, verschwand jeder sofort in seinem Zimmer. Auch im Auto, redeten wir kein Wort. Kaum hatte ich mich aus dem hässlichen schwarzen Kleid, der Sonnenbrille und der schwarzen Strumpfhose entledigt, schlüpfte ich in mein weißes Sommerkleid, zog mir meine schon angeranzten, alten Vans an und stieg in die Straßenbahn. Ohne jemand Bescheid zu sagen, doch es war nicht schlimm. So ging dass die letzten Tage schon, seit ihrem Tod. Jeder tat, was er wollte. Jeder lebte hier für sich.
Täglich verbrachte ich stundenlang hier. Nachdem ich in der Schule darüber ausgefragt werde und zuhause mir eingetrichtert wird von Luca und Josu, ich solle nach vorne schauen, brauche ich einen freien Kopf. Und den kriege ich nur hier.
"Dad?", murmelte ich und sah immer noch auf das Gänseblümchen in meiner Hand. Er schaute mich erwartungsvoll an. "Wieso musste Maddie sterben?" fragte ich. "Sie hatte Krebs, das weißt du doch", sagte er nachdenklich. Er wusste, dass das nicht die Antwort war, die ich hören wollte. "Wenn du auf dieser Wiese liegst, und eine Blume abreißen möchtest. Welche nimmst du zu erst? Ein Gänseblümchen oder ein einfachen Grashalm?" Ich schaute wieder auf meine Hände.
Nach dem wir einige Minuten uns bloß angeschwiegen haben, stand er auf und hielt mir seine Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mich von ihm hochziehen. Müde zog ich mir meine Schuhe an und band meine Haare zu irgendeinem Dutt. Wir liefen über die Weide bis zu unserem Auto. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und Luca startete das Auto. Ich schnallte mich an und lehnte mich mit dem Kopf an der Scheibe an. Mein Blick galt der Wiese, von der wir uns immer mehr entfernten.
Und ich bildete mir ein, ein letztes Mal Maddie gesehen zu haben.
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mauz || cancer
FanfictionDies ist die Fortsetzung von "mauz || wir beide" Es wird empfohlen diesen zu erst zu lesen! ___ Max und Luca führen eigentlich ein ganz normales Familienleben. Perfekte Beziehung, wundervolle Kinder, traumhaftes Haus. Doch es gibt Risse in dieser...