Eisengel

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Cassian

Es war spät in der Nacht. Bereits seit Stunden herrschte Nachtruhe. Meinen Mitbewohner schien das nicht zu interessieren. Er war nämlich gar nicht im Zimmer. Aber mir sollte es Recht sein, dass er Nachts meistens nicht da war. Außerdem hatte ich so meine Ruhe. Es war Wochenende und etwas Zeit nur für mich tat mir auch mal gut. 

Ich lag auf meinem Bett, nur in meinen engen Boxershorts, und zeichnete. Ich selbst war überzeugt davon, dass ich nicht zeichnen konnte, auch wenn alle anderen etwas anderes behaupteten. 

Mein Blick fuhr an meine Wand. Inzwischen hatte ich mich etwas eingerichtet. Meine Fotos hingen an meiner Wand. Lautlos seufzte ich. Ich wollte dort hin zurück, wo noch alles perfekt war. Aber das ging leider nicht. Und das wusste ich ganz genau. Ich wusste auch, dass es im Leben nicht immer so einfach war. Das war wohl auch besser so. Auch wenn es hart war, sehr hart. Meine linke Hand, in der ich meinen Bleistift hielt, fuhr über meinen rechten Unterarm, den eine große Brandnarbe zierte. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, ob das Leben von Karma oder Schicksal bestimmt war. Vielleicht bedeuteten beide Worte im Endeffekt ja doch das gleiche? Ich wusste es nicht. Und wahrscheinlich war es auch besser so, wenn man nicht alles haargenau klein dachte und auch mal etwas so stehen ließ, ohne nach dem Sinn zu suchen, den man schließlich doch nicht fand. Am Ende führte zu viel Nachdenken doch eh nur zu Selbsthass, weil man sich selbst die Schuld an schlimmen Dingen gab.

Ich sah wieder auf meinen Zeichenblock, gab dem Engel seine Flügel und sein bezauberndes Lächeln. Ich war mir sicher, dass, wenn es Engel wirklich gab, sie keine Flügel hatten und auch nicht immer in strahlend hellen Kleidern herum liefen. Und trotzdem zeichnete ich einen Klischee-Engel in meinen Block. Weißes Haar, strahlend blaue Augen, Flügel, weiße Hosen und ein weißes Hemd. Es war jedoch ein Junge. Vielleicht so alt wie ich, vielleicht sogar jünger. Mit einem leichten Lächeln betrachtete ich den Engel auf Papier. Ob es so schöne Menschen gab? Wenn ja, war ich ihnen noch nicht begegnet. 

"Dein Hintern ist ja schon geil", hörte ich Lennox' Stimme. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er rein gekommen war und mir ganz offensichtlich auf meinen Po geglotzt hatte. 

Ich sah ihn an. "Ach halt doch die Klappe!" Noch bevor ich die andere Person bemerkte, blickte ich wieder auf das Papier vor mir. 

Das Klicken der Tür signalisierte mir, dass mein Mitbewohner in das kleine Badezimmer verschwunden war. Seufzend richtete ich mich auf und setzte mich in den Schneidersitz, ehe ich meinen Block zuklappte und auf den Nachttisch legte. Gähnend fuhr ich mir durch mein schwarzes, zerzaustes Haar. 

Erst als mich eine Gänsehaut überkam durch das Gefühl beobachtet zu werden, bemerkte ich den Jungen, der mitten im Zimmer stand. Wie ein Wolf seine Beute hatte er mich abgecheckt und tatsächlich beobachtete. Obwohl er ziemlich klein war, fiel sein Blick auf mich herab. Das ließ ihn furchtbar abweisend und vor allem arrogant wirken. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, wandte er seinen Blick ab, zog seine Kapuze auf seinen Kopf und ließ seine zierlichen Hände in der Tasche seines viel zu großen Pullis verschwinden. Diese Geste empfand ich als so eiskalt, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Und trotzdem konnte ich meinen Blick nicht vorn ihm abwenden. Sein Haar, ganz weiß, hing ihm im Gesicht, versperrte mir die Sicht auf seine Augen. Mein Blick fuhr an ihm herab. In dem Kapuzenpulli wirklich er etwas verloren, da er für ihn viel zu groß war. Aber um ehrlich zu sein, sah das mehr als süß aus und passte perfekt zu den schwarzen Skinnyjeans, die er trug. Seine Beine waren dünn und hätten die eines Mädchens sein können. Auch seine Füße schienen für einen Jungen doch etwas zu klein geraten zu sein, doch passten sie perfekt zu seinem kompletten Erscheinungsbild. 

Obwohl dieser merkwürdige Kerl eine solche Kälte ausstrahlte, wurde mir innerlich ganz warm und solang er sich in diesem Zimmer befand, würde ich nirgendwo anders hinsehen können.  Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass jemals eine Person eine solche Wirkung auf mich hatte. Und hatte ich mich nicht erst einige Minuten zuvor gefragt, ob es solch schöne Menschen gab? In diesem Moment war ich mir mehr als sicher, dass einer dieser wenigen wunderschönen Menschen vor mir stand. Ohne nur ein Ton von sich zu geben oder mich weiter zu beachten, wusste ich, dass ich nie eine schönere Person zu Gesicht bekommen würde als die, die in meinem Zimmer stand und so verloren in ihrem großen Hoodie wirkte. 

Er zog mich in seinen Bann und schien mich zu beherrschen, seelisch wie körperlich, ohne, dass er überhaupt etwas tat. Ich presste meine Lippen aufeinander. Mir war es unbegreiflich, wie ich so sehr die Kontrolle über mich verlieren konnte.

Lennox kam wieder aus dem Bad und versperrte mir den Blick auf den Jungen. "Sieh ihn nicht mit diesem Blick an", zischte mein Mitbewohner, legte seine Hand auf die Schulter des kleineren und schob ihn aus dem Zimmer. 

Die Tür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Zurück blieben die eiskalten Schauer, die mir den Rücken hinab liefen, die Hitze in meinem Inneren und der süße Duft von Rosen, dessen Stacheln sich jedoch in mein Herz zu bohren drohten...

Milo [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt