Auf dem Dach

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Cassian

Kurz nachdem ich seine kurze Nachricht gelesen hatte, war ich förmlich gezwungen mich bei meiner Freundin zu entschuldigen und ihn zu suchen. Selbst wenn ich ihn nicht suchten wollte, musste ich es einfach. Sie zogen mich zu ihm, seine eisernen Fesseln, die sich in meine Handgelenke schnürten. Kalt. Erbarmungslos. Es tat weh. Es quälte mich. Und dennoch machte ich keine Anstalten sie zu lösen. Ich war so unglaublich aufgeregt, das Adrenalin schoss nur so durch meinen ganzen Körper. Ich wollte ihn finden. Ich musste ihn finden! Vor Mitternacht. Den gläsernen Schuh hatte ich bereits gefunden, doch nicht die Person, die ihn verloren hatte.

Im Grunde hatte ich bereits aufgegeben, als ich um halb zwölf das Dach des alten Schulgebäudes betrat. Die Musik war sogar hier oben noch zu hören. Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und schloss für einen kurzen Moment die Augen, ehe ich zum sternenklaren Himmel hinauf sah.

„Ich dachte schon, du findest mich nie..."
Ich hatte diese Stimme noch nie klare Worte bilden hören, dennoch erkannte ich sie sofort. Er war es wirklich. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. So sehr hatte ich mir diese Situation an diesem Abend gewünscht, doch wirklich gerechnet hatte ich damit nicht. Erst recht nicht mit dem, was er kurz darauf tat.

Der schmächtige Junge kam auf mich zu, begann seine Fliege zu lösen. Die Jacke seines Anzugs rutschte langsam seine schmalen Schultern hinab und fiel achtlos zu Boden. Mit geschickten Fingern öffnete er einen Knopf nach dem anderen und entblößte so seine blasse Haut. Ob er auch woanders Sommersprossen hatte als im Gesicht? Da kein Licht brannte, konnte ich es nicht erkennen. Ich stand wie erstarrt da, während mein Blick an ihm hinab und wieder hinauf fuhr.

Mir war es erst wieder möglich, mich zu bewegen, als auch sein Hemd von seinen Schultern glitt und in seinen Armbeugen hängen blieb. Der Junge sah mich durch die reich verzierte Maske an. Sein Blick glich dem dieser einen Nacht. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, mich mache dieser Blick nicht an, er ließe mich kalt. Oh mir war so schrecklich heiß in dieser kühlen Nacht auf dem Dach.

Leise räusperte ich mich und ging auf den kleineren zu. Meine Finger zitterten ein wenig, als sie nach seinem weißen Hemd griffen. Sanft zog ich es wieder hinauf. „Es ist kalt hier draußen", flüsterte ich schon fast und knöpfte es wieder zu. Das erste Mal wusste ich, was sein Blick zu bedeuten hatte. Die Verwirrung in seinen Augen war nicht zu übersehen. Dennoch machte er keine Anstalten etwas zu sagen. Er war wohl kein Mensch der vielen Worte. Also sprach ich.

„Glaub mir, ich bin keineswegs abgeneigt. Ganz im Gegenteil." Ich sah ihn direkt an, während ich seine Fliege band. „Aber ist es nicht sehr überstürzt? Außerdem bist du mit meinem Mitbewohner zusammen."

„Der muss davon nichts wissen", erwiderte er und wieder waren seine Gefühle ein Rätsel für mich.

Dennoch ließ ich mich nicht beirren. „Ich kenne dich nicht. Ich weiß nur, dass du mich immerzu ansiehst. Wäre es nur eine einmalige Sache oder würde es etwas bedeuten? Ich kenne nicht einmal deinen Namen."

„Das ist doch alles völlig egal." Er wandte seinen Blick nicht ab, auch wenn es vermutlich jeder andere getan hätte. Ich wusste nicht, wie lang wir uns so gegenüber standen und uns einander einfach nur in die Augen sahen.

Schließlich hielt ich ihn meine Hand hin. „Willst du tanzen?"

Trotz seiner Maske sah ich, wie der Junge eine Augenbraue hob.

„Ich dachte, du willst dich von mir führen lassen." Ein sanftes Lächeln schlich sich über meine Lippen.

„Du bist wirklich ungewöhnlich, Cassian..."

Er ergriff meine Hand und wir tanzen. Wir tanzten. Auf dem Dach. Unser Rhythmus passte nicht zu der Musik, die aus der Festhalle zu uns drang. Wir hatten unseren eigenen Takt. Wir schwiegen und es war okay. Es war angenehm. Und so unglaublich warm, obwohl die Nacht so unglaublich kühl war. Ich fühlte mich ihm nicht unterlegen. Aber auch nicht überlegen. Wir standen gleich auf. Für diese Nacht war unser Spiel vergessen. Wir hatten unsere Gräben verlassen und tanzten im Niemandsland. Niemand gewann und niemand verlor. Oh ich genoss es so sehr. Und das erste Mal tat seine Nähe nicht weh. In meiner Brust war Frühling. Blumen blühten und Hummeln flogen und es kribbelte so angenehm. Es war wie ein Traum. Ein wirklich schöner Traum.

Um Mitternacht nahmen wir uns gegenseitig die Masken ab und sahen uns einfach an. Es war als würde er jedes Mal ein bisschen schöner werden. Viel hätte wirklich nicht gefehlt und ich wäre ihm verfallen. Ich hätte mit ihm geschlafen. Mein erstes Mal auf dem Dacht gehabt, mit einem Jungen, der vergeben war und dessen Namen ich nicht hätte Stöhnen können, in einer so kühlen Nacht. Ob ich es bereut hätte, konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass ich es nicht bereute, dass es nicht geschehen war.

„Er sucht mich vermutlich schon...", gab der weißhaarige von sich.

Ich nickte leicht und hob sein Sakko auf, legte es ihm über. „Gute Nacht." Sanft, ja fast schon liebevoll streichelte ich seine zarte Wange. Es wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen ihn zu küssen, doch ich tat es nicht. Und er tat es auch nicht. Es war okay. Auszuhalten. Es tat fast nicht weh.

Er legte seine kleine Hand auf meine größere. Unsere Hände waren kalt. Mein Herz dafür umso wärmer.

Dann ging er. Gerade als er durch die Tür trat, wandte er sich noch einmal zu mir um. „Milo. Ich heiße Milo."

Er ließ mich allein auf dem Dach zurück. Es tat fast nicht weh. Denn diese Nacht war wunderschön. Wieder legte ich meinen Kopf in den Nacken und schloss für einen kurzen Moment die Augen, ehe ich mir die Sterne ansah. Milo. Oh Milo. Engel und Teufel trugen den selben Namen. Oh Milo. Gib mir mein Herz zurück. Nein! Behalt es. Denn wenn du es nicht hast, soll es keiner bekommen. Es gehört dir. Oh geliebter Milo...

Milo [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt