Chaos

1.6K 130 15
                                    

Cassian

Wieso war ich so ein Gefühlsmensch? Wieso war ich kein Kopfmensch? Wieso musste ich alles fühlen? Und wieso hatten meine Gefühle so großen Einfluss auf mich?

Ich legte seufzend meinen Kopf auf mein Matheheft.

War das schon immer so? Oder entwickelte es sich gerade so? Wenn ja, empfand ich es als eine schlechte Entwicklung. Ich wollte das nicht. Denn irgendwie tat es überwiegend weh. Und Schmerzen waren nicht mein Ding. Eigentlich. Dennoch machte es mich irgendwie scharf, wenn Milo der Grund dafür war, dass es wehtat. Das klang so unglaublich erbärmlich.

„Cassian. Würden Sie sich bitte auf ihre Aufgaben konzentrieren?", ermahnte mich mein Mathelehrer.

Ich hob langsam den Kopf. „Mir gehts nicht gut, darf ich ein wenig an die frische Luft?"

Er seufzte und wedelte mit der Hand Richtung Tür.

Ich bedankte mich und verließ den Klassenraum und kurz darauf das Schulgebäude.

Es war frisch draußen. Ich hätte mir meinen Pullover überziehen sollen. Das Hemd war trotz langer Ärmel wirklich zu dünn für diese Temperaturen. Ich zog die Schultern hoch und verzog mich in einen Hauswinkel, wo der Wind nicht so zog. Die bunten Blätter schwirrten herum und tanzten über den Rasen. Oh wie sehr ich das Tanzen vermisste... Das Tanzen. Meine Eltern. Mein Zuhause. Die Zeit, in der noch alles einfach war. Meistens jedenfalls.

Ich ließ mich an der Wand hinab gleiten. Mein Kopf sank auf meine Knie.

„Aaaahhhh!", schrie ich. Ohne bestimmten Grund. Mir war einfach danach. Einfach schreien. Immer wieder. Laut. Immer wieder. Lauter. Nochmal. So laut ich konnte. Meine Fäuste schlugen auf das nasse Gras, auf welchem ich hockte. Aber es tat nicht weh. Ich mochte Schmerzen nicht. Dennoch sehnte ich mich gerade so sehr nach körperlichen Schmerz, denn der psychische war kaum auszuhalten. Die Hose mit den Bügelfalten wurde nass. Vom Gras und von meinen Tränen, die unaufhörlich auf den guten Stoff tropften. Wann war ich so eine Heulsuse geworden? Oder eher wann war ich sie erneut geworden? Wieso hatte mein Leben diese Phasen in denen ich nur noch weinen wollte?

Laute Gedanken. Dann wieder komplette Stille. Leere. Unerträglich. Chaos in der Brust. Im Bauch. Schmetterlinge. Messerstiche. Wo lag der Unterschied? Chaos. Chaos. CHAOS! Ich fiel nicht mehr. Mein Körper lag bereits zertrümmert auf dem Asphalt und Menschen um mich herum redeten, taten aber nichts um mir zu helfen. Sie haben zugesehen, wie ich vom Hochhaus gekippt war.

Nur einer hielt immer meine Hand.

Arme legten sich um mich. Finger glitten durch meine wilden Haare. Der Duft von Zuhause. Meine Nägel krallten sich in seinen Wollpulli.

„Was ist los?" Mein kleiner Bruder sprach so leise, dass ich Mühe hatte ihn zu verstehen.

Ich weinte auf seine Schulter. Mal wieder. Sollte nicht eigentlich der Ältere auf den Jüngeren aufpassen? Wieso musste Damon mich denn immer vom Boden kratzen? Wieso war er so stark?

„Ich hab Angst um dich, wenn du so drauf bist", sprach der jüngere seine Sorgen aus und drückte mich fester an sich.

„Tut mir leid... tut mir leid tut mir leid...", murmelte ich schluchzend.

Ich wusste nicht, wie lang wir da saßen. Irgendwann hatte es zu regnen begonnen. Wir blieben trotzdem nebeneinander sitzen. Völlig durchnässt. Es war kalt. Aber es tat gut irgendwie.

„Ich dachte... er... er macht dich glücklich?" Damon sah auf seine Lederschuhe.

Ich hielt mein Gesicht in die Tränen des Himmels, die sich mit den meinen vermischten. „Er war am Wochenende mit zu Lennox gefahren. Um mit ihm zu reden. Hat er gesagt..." Ich holte tief Luft. Meine Stimme zitterte schrecklich. „Aber Milo hängt ihm immer noch am Arm, sitzt auf seinem Schoß. Bekommt Nachts Besuch von ihm. Wir haben nicht geredet, seit sie wieder da sind. Ich halte es nicht aus... dieses hin und her. Verdammt, was ist nur falsch mit mir, dass er... Fuck, ich dachte, er hat wirklich Gefühle für mich." Es tat so weh. So schrecklich schrecklich weh.

Damon öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Tat es dann doch nicht. Stattdessen ergriff er einfach meine Hand und schwieg eine Weile, ehe er erneut ansetzte. „Ich weiß nicht, was er für dich empfindet. Ob er dich liebt oder nicht. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass..." Er schluckte schwer und drückte meine Hand fester. „Ich weiß nur, dass es mindestens einen Menschen auf der Welt gibt, der dich immer unendlich lieben wird."

Wir ließen seine Worte einfach in der Luft hängen.

Das Chaos blieb das selbe Chaos wie zuvor. Aber es war ein Stück weit weniger schlimm.

Und erneut ließ ich Milo seine Spielchen spielen, die mir das Gefühl gaben ihn noch mehr zu wollen denn je. Ich wollte ihn. Ihn als mein bezeichnen. Ihn besitzen. So wie er mich schon seit unserer ersten Begegnung zu seinem Besitz zählen konnte. Lass mich dich wie eine Trophäe in meinen Händen halten. Oh geliebter Milo. Sei mein. Lass mich deine Prüfung bestehen und gehöre mir. Für immer.

Milo [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt