Schäferhunde und Eisbären

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Cassian

Ich fuhr mir seufzend durch die schwarzen Haare. Was tat ich hier eigentlich? Mein Blick glitt zu dem Brief in meiner Hand, um zum zehnten Mal die Adresse zu überprüfen. Verdammt, was tat ich hier eigentlich? Erneut fuhr ich mir durchs Haar. „Fuck..."
Die vier Stunden neben diesem schwitzenden Kerl im Zug wären völlig unnötig gewesen, wenn ich ohne zu klingeln zurück zum Internat fahren würde.

Lang zögerte ich, ehe ich meinen Zeigefinger endlich auf den runden Knopf presste. Nun gab es kein zurück mehr.

„Wer ist da?", hörte ich eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, der sich über der Klingel befand. Noch immer stand ich vor dem rustikalen Tor auf den Gehweg.

Ich umklammerte den Riemen meines Rucksacks und beugte mich etwas zu der Sprechanlage vor. „Äh h-hallo... Hier ist Cassian Jacques. Ich... wollte zu Milo." Meine Stimme zitterte. Normalerweise war ich in solchen Situationen gelassener.

Es dauerte eine Weile, bis eine Antwort kam. „Einen Augenblick, das Tor geht gleich auf", sagte die Frau freundlich zu mir.

„Danke." Dabei wusste ich nicht einmal, ob sie es noch hören konnte. Es dauerte tatsächlich nur einen kurzen Moment, bis sich das Stahltor öffnete. Ich atmete tief durch, ehe ich das Grundstück betrat. Langsam latschte ich über den Kiesweg zur riesigen Eingangstür. Da ich mich neugierig umsah, bemerkte ich nicht, dass ich dort bereits erwartet wurde. Außerdem war ich viel zu abgelenkt von den beiden Schäferhunden, die mich bedrohlich in ihr Visier nahmen, ehe sie sich in Bewegung setzten und auf mich zu rannten. Und zwei Schritte schneller gehen reichte nicht, um den grausamen Bestien zu entfliehen. Mir entfuhr ein unmännlicher Schrei, als einer der beiden mein Hosenbein zwischen seine gefährlichen Zähne bekam, während das andere Tier vor Vorfreude sabbernd an mir hochsprang. Sie würden mich auffressen. Lebendig verspeisen. Einen qualvollen Tot würde ich sterben.

Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, wobei es mir bereits in die Hose gerutscht war. Ich konnte nicht hinsehen. Panisch kniff ich die Augen zu.

Es ertönte ein lauter Pfiff. „Bella, Mia!", rief jemand streng.

Ich wusste nicht, ob ich eine Gänsehaut hatte, weil die zähnefletschenden Köter an meinen Hintern hingen oder ich seine Stimme hörte. Seine Stimme und sein Lachen. Denn er lachte. Er lachte über mich. Über wen auch sonst? Aber das war schön. Es war so unglaublich schön, dass er über mich lachte und nicht über jemand anderes. Denn ich war es, der seine unglaublich süße Lache hören durfte. Nur ich. Zuvor hatte ich sie nie so gehört. So aufrichtig.

Der Junge kam auf mich zu und streichelte die beiden Hunde. „Ja, ihr seid gute Wachhunde." Er wuschelte ihnen durchs Fell. Gleich würden sie sicher auch ihn zerfleischen...

Ich ging ein paar Schritte zurück, schüttelte mich. „Oh Gott."

„Katzendad?"

„Eindeutig Katzendad!", bestätigte ich. Hunde waren echt nicht mein Ding. Katzen umso mehr.

„Tut mir leid, die beiden sind bei Fremden etwas stürmisch."

Ich räusperte mich und sah Milo an. „Etwas stürmisch, genau."

„Das sind Bella und Mia." Er hatte sich zu ihnen runter gehockt. Zugeben es sah wirklich knuffig aus. Wären die Hunde etwas kleiner und der weißhaarige etwas größer.

„Okay..." Ich betrachtete die drei. „Äh... können wir irgendwo anders hingehen, wo keine riesen Bestien sind?"

Er warf mir einen belustigten Blick zu, erhob sich und bedeutete mir, ihm zu folgen. Gemeinsam liefen wir die Stufen zum Eingang hinauf und betraten die riesige Villa. Ich sah mich neugierig um und zog nebenbei brav meine Schuhe aus, während der Kleinere mir ein paar Hausschuhe hinstellte.

„Oh... Danke." Ich schlüpfte hinein und räumte meine Schuhe zur Seite.

Milo führte mich eine breite Treppe hinauf, in einen langen Gang. Ich war an große Häuser und Villen gewohnt, da meine Familie selbst große Häuser besaß, genau wie die Freunde meiner Familie.

Ich folgte ihm in ein Zimmer. Sein Zimmer, so nahm ich an, denn an der hölzernen Tür hing ein goldenes Schild mit seinem Namen. Fast wie im Internat. Er ließ mich eintreten. „Fühl dich wie Zuhause", gab er leise von sich.

Kurz zögerte ich, ehe mein Rucksack zu Boden sank und ich mich auf sein Bett pflanzte. Mein Blick glitt durch den Raum. Er war kleiner als ich zuerst angenommen hatte. Aber da hier kein Schreibtisch oder ein Kleiderschrank drin standen, ging ich davon aus, dass mehrere Zimmer ihm gehörten.

Schmunzelnd griff ich nach einem Eisbären. Das Kuscheltier wirkte ziemlich erledigt, so wie jedes alte Kuscheltier. Der nicht mehr ganz weiße Bär hatte allerdings ein braunes und ein blaues Auge. Genau wie sein Besitzer.

„Passt zu dir", meinte ich grinsend und hielt den Teddy hoch.

„Das einzige Plüschtier, von dem ich mich nicht trennen konnte." Der Knirps zog seine Puschen aus und warf sich zu mir auf sein Bett. Es war ein schmales Bett. Neunzig Zentimeter. Es war selten, dass jemand so ein schmales Bett hatte. Jedenfalls in meinem Bekanntenkreis.

Ich setzte den Bären auf meinem Schoß ab und ließ meinen Blick in seinem Zimmer schweifen. Parkettboden mit einem Lammfell vor dem Bett. Die Wände waren schlicht weiß, allerdings hingen an ihnen Fotos und andere Bilder. Fotos von Milo. Von ihm und Freunden oder Familie. Fotos von ihm mit Lennox. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn es Abbildungen von ihm und mir waren? Ich wandte meinen Blick von den Bildern ab und schaute zu dem Bücherregal. Ob er sie alle gelesen hatte? Die Bücher? Viel mehr war in diesem Raum nicht zu finden, außer ein gemütlich aussehender Sessel. Er war alt. Alt aber nicht schmuddelig. Eher die edle Art von alt.

Ich rieb mir über die Arme, da ich Milos Blick auf mir spürte. Noch immer bekam ich eine Gänsehaut davon. Ich sah zu ihm. Er lächelte nicht. Allerdings zeigte er auch sonst keinerlei Emotion. Es war nicht schlimm. Denn ich war bei ihm. Bei ihm Zuhause. Allein. Wir beide allein in seinem Zimmer. In seinem Bett. Nicht weil wir miteinander schliefen, sondern, weil wir einfach beieinander saßen und uns in den Augen des anderen verloren. Hellblau und karamellbraun. Seine Augen waren so faszinierend. So gern versank ich in ihnen, auch wenn es meistens so sehr wehtat. Sie zeigten nicht, was in seinem hübschen Kopf vorging. Und manchmal kam der Gedanke auf, dass es gut so war. Denn was würde ich tun, wenn ich sehen würde, was er fühlte. Was er dachte. Wollte ich das? Wollte ich sein Inneres in seinen Augen ablesen können? Oder wollte ich seine Stimme hören, die mir von seinen Gedanken erzählte. Von seinen Gefühlen. Spinnereien. Jede Kleinigkeit. Er redete nicht viel und ich empfand jedes seiner Worte als Zeichen seines Vertrauens. Jedenfalls redete ich es mir gern ein.

Ich konnte nicht sagen, wie lang wir uns einander ansahen und einfach nur da saßen. Seine weißen Haare hingen ihm halb im Gesicht und es war süß. Seine Sommersprossen waren nicht zu übersehen und es war süß. Sein Hemd war spießig und passte nicht zur lässigen Jeans. Und genau das war so unglaublich süß. Er trug keine Strümpfe und mir fiel auf wie klein seine Füße waren. Und seine kleinen Füße waren wirklich süß. Süß. Niedlich. Knuffig. Herzerwärmend. Wunderschön. Perfekt unperfekt.

„Wie lang bleibst du?", fragte er schließlich leise in die Stille hinein. Nur sein Wecker auf dem Nachttisch tickte so laut und dennoch störte es mich kein bisschen.

„Wie meinst du das?"

„Nur heute? Ein paar Tage?" Er zögerte. „Länger...?"

Ich musste lächelnd. Um ehrlich zu sein, hätte ich damit gerechnet, dass er mich noch am selben Tag wieder zurück schicken würde. Doch er bot mir tatsächlich an, länger zu bleiben. „Das hab ich noch nicht entschieden."

Für einen Bruchteil einer Sekunde erblickte ich ein Strahlen in seinen Augen. Ein kurzes Aufleuchten. Freute er sich wirklich, dass ich in Erwägung zog, wirklich länger bei ihm zu bleiben?

„Du darfst so lang bleiben, wie du magst", flüsterte er und lächelte mich an. Er lächelte. Es war echt. Sein Lächeln. Es war aufrichtig. Und es galt mir. Er lächelte mich an.

Ich erwiderte es. In meiner Brust wurde es so warm. Mein Herz schlug wild, sodass ich es pochen hörte. Schmetterlinge flogen durch meinen Bauch. Dieses Gefühl war wunderbar. Es tat kein bisschen weh. In jenem Augenblick genoss ich es einfach bei ihm zu sein. Er wollte mich bei sich haben. Mich und nicht Lennox. Mich. Er wollte mich. Oder?

Milo [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt