30 Minuten später standen wir uns im Boxring wieder gegenüber. Wir trainierten weiter unsere Kampftechniken, diesmal unter Betreuung unseres Coaches. Coach Liam hatte unsere Verspätung und unsere kläglichen Erklärungsversuche heute seltsamer Weise nur abgenickt. Nicht ein Wort hatte er darüber verloren.
Sogar seine Moralpredigt die er uns in diesen Fällen sonst immer erteilte, blieben uns verschont.Normalerweise hasste er Verspätungen so sehr, dass diese mit zusätzlichen einstündigen Seilspringeinheiten bestraft wurden. "Zuversicht über einen Menschen gewinnt man aus seiner Pünktlichkeit" , predigte er uns immer wieder, " Ich möchte Euch schließlich vertrauen können und das kann ich nun mal nicht, wenn ihr unpünktlich seid."
Nicht mal diese kleine Anforderung konnten wir erfüllen. Immer wieder setzten wir seinen Glauben an uns aufs Spiel, denn wir verranten uns oft mit der Zeit. Bis jetzt ist es aber eigentlich immer noch halbwegs gut gegangen.
Dieses mal aber schwieg er die Sache zu Tode. Ich dachte beunruhigt darüber nach was in ihm vorging. Was ist wenn er uns ab jetzt nie wieder vertraut ? Ich merkte wie mir dieser Gedanke einen Schauer über den Rücken jagte. Zerknirscht versuchte ich mich auf das Training zu konzentrieren. Vielleicht konnte ich seine Enttäuschung durch gute Leistung mildern. Auch Pat und Renal gaben sich mindestens genauso viel Mühe wie ich. Sie mussten auch Schuldgefühle haben.Wir gaben die ganze Zeit über unsere bestes. Aber Coach Liam lief im Boxring die ganze Zeit nur hin und her, ohne uns auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Hier und da rief er uns knappe Anweisungen zu. Warum in Gottes Namen reagierte er heute so? Während der gesamten Trainingszeit von 3 Stunden zerfraßen mich meine Schuldgefühle. Ich hatte den Drang auf ihn zu zugehen und ihn zu fragen.
Ich wollte ihn fragen ob wir ihn enttäuscht hatten. Ob Ich ihn enttäuscht hatte. Ich war die älteste und somit die Verantwortliche. Aber ich brachte es nicht übers Herz. Liam war da nie so offen gewesen. Er war nicht der Typ auf den man einfach auf zugehen konnte. Aus Erfahrung wusste ich, dass man ihn eigentlich nichts fragen konnte, ausgenommen es handele sich um die Verbesserung der eigenen Kampftechnik. Eigentlich ganz traurig wie Kampfbesessen meine Familie doch war.
Coach Liam ist mein Vater. Eigentlich heißt er mit bürgerlichen Namen Liam Werm. Aber seit ich denken konnte, nennen wir ihn bloß Coach Liam. Auch die Leute aus dem Vorort nannten ihn so. Wir kannten es nicht anders. Ich glaube, dass es mir aus diesem Grund befremdlich war, wenn andere von ihrem "Papa" sprachen. Ich war dieses Wort nicht gewohnt. Ich fühlte mich wohl dabei, ihn wie alle anderen nur Coach Liam zu nennen.
Meine Mutter Vanessa Werm stand dem Coach in allem was er machte zur Seite. Sie war seine Sekretärin und Managerin in der großen Kampfschule Werms. Die Kampfschule befand sich in der nächst gelegenen Großstadt Frankfurt am Main. Gut zwei Stunden war die Kampfschule mit dem Auto von unserem abgelegenen Wohnort in Fulda entfernt. Meine Mutter machte ihren Job ganz gut. Es fiel ihr leicht Liams Anweisungen als Geschäftsleiter zu folgen.
Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, dass sie auch privat immer nur das machte, was mein Vater wollte. Noch nie habe ich erlebt, wie sie etwas alleine entschieden hatte. Ich glaube das die beiden sich deshalb so gut wie nie stritten. Der Grund war, das sie Liams Persöhnlichkeit immitierte und ihre eigene irgedwie zu kurz kam. Aber sie hatte das Talent es so aussehen zu lassen, dass sie selber alles entschied. Es wirkte so als ob die beiden durch die selbe Denkweise immer zufällig derselben Meinung waren. Alle seine Entscheidungen waren auch ihre. Sie lehnte sich in allem was Sie tat und machte an Liam. Und dabei strahlte sie irgendwie so eine gewisse Zufriedenheit aus, dass man ihr es gar nicht übel nahm. Auf ihre merkwürdige Art und Weise wirkte sie selbstbewusst. Deshalb kam man, wenn man die beiden so zusammen sah eigentlich nicht auf die Idee, dass sie alles einfach nur abnickte was er sagte. Man wollte nicht glauben, dass eine solch selbstbewusste Frau irgendwie dann doch keinen Eigencharakter besaß.
Selbst ich brauchte lange um das zu begreifen. Schließlich sah ich meine Mutter Vanessa jeden Tag meines gesamten Lebens. Ich glaube, dass Pat,Renal und Liam das Ganze noch nicht bewusst war. Männer hatten da nicht so den scharfen Sinn für. Aber eigentlich mussten sie das ja auch nicht wissen. Ich glaube das Vanessa auf ihre abgedrehte Art und Weise Harmonie in unser Familienleben brachte .Die Zwillinge hatten ein wesentlich positiveres Gesamtbild von unserer gemeinsamen Mutter. Sie hatten zu ihr aber auch ein viel besseres Verhältnis als ich. Ich weiß nicht woran das lag, aber ich hatte keinen Draht zu meiner Mutter. Und sie hatte auch keinen zu mir. Sie erfüllte ja eigentlich all ihre mütterlichen Pflichten, so gut es ging. Nur manchmal kam es mir so vor, als würde sie das alles nicht für mich, sondern eher für die Zwillinge tun. Ein Teil von mir hegte manchmal den dunklen Gedanken, dass ich für sie nicht existierte und das sie, nur um den Schein vor den anderen zu wahren, ab und an auch mal auf mich einging. Wenn sie mich manchmal anlächelte wurde ich das Gefühl nicht los, dass ihr lächeln mir gegenüber nur aufgesetzt war. Doch diese Gedanken verdrängte ich dann so schnelll es ging wieder. Sylvia hör auf mit deinen Verschwörungstheorien, ermahnte ich mich dann immer selber. Wo gab es das denn schon bitte? Jede Mutter liebte doch ihr Kind. Vor allem wenn die Familie in gutem Verhältnis zueinander steht und weitgehend hamoniert, wie wir es taten. Aus diesem Grund musste meine Mutter mich lieben. Und aus diesem Grund musste ich sie lieben. Aber es fiel mir zugegebener Maßen etwas schwer.
DU LIEST GERADE
doomed fighter- zum Scheitern verurteilt
Teen FictionSylvia ist Mitte 18. Auch wenn sie rund um die Uhr mit der Familie zusammen war, fühlte sie sich alleine. Bei diesen scheint doch etwas anderes im Vordergrund zu stehen als das Glück der Tochter. Sogar als Sylvia beim harten Kickboxtraining ern...