Bonuskapitel

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Bellas Sicht (Kikis Schwester)

Es regnet. Dicke Tropfen prasseln auf die schwarzen Regenschirme, die überall auf dem Friedhof zu sehen sind. Viele Leute sind gekommen. Kikis Schulkameraden, Verwandschaft von uns und Verwandschaft von Taylor. Müde und teilnahmslos lasse ich den Blick über die fahlen Gesichter der Angehörigen gleiten. Taylors Mutter sieht schrecklich aus. Tiefe und dunkle Ringe unter den Augen, entstanden von den vielen schlaflosen Nächten. Seit dem schrecklichen Tag habe ich eigentlich nur im Bett gelegen und geschlafen. Denn das war die einzige Möglichkeit den Schmerz nicht ständig spüren zu müssen, die tiefen klaffenden Wunden zu betäuben und das geht nur wenn ich schlafe. Ich hätte mit Albträumen gerechnet, schließlich habe ich mit ansehen müssen wie meine kleine Schwester tot aus einem See gezogen wurde und mein Nachbar neben mir an einem Ast gehangen hat. Doch ich träume seit jenem Tag eigentlich gar nicht mehr.

Raph steht neben mir, wir sind die Einzigen die nicht weinen. Ich denke einfach an einem gewissen Grad von Schmerz kann man nicht mehr weinen. Und diesen Grad von Schmerz habe ich erreicht, ich weiß das die Tränen dieses Loch nicht schließen werden, ich weiß, dass sie die Narben und Wunden in meinem Herzen nicht heilen werden. Deshalb weine ich nicht.

Als der Pfarrer letzte Worte in seiner Singsang Stimme spricht wird der Sarg nach unten gelassen. Erst Taylors Sarg.

Ich blicke ihm hinterher. Jeder Meter ist qualvoll, mit jedem Meter wird es endgültiger, mit jedem Meter wird mir bewusster das es vorbei ist, dass er tot ist.

Taylors Mutter legt die erste Rose ins Grab, danach Taylors Onkel und Tante und seine 4 jährige Cousine, die unbekümmert: "Tschüss Tyty, Mama sagt wir sehen dich erst nach sehr langer Zeit wieder. Ich werd dich sehr vermissen."

Wäre mein Herz noch nicht in tausend Teile zerbrochen würde es bei diesen Worten endgültig brechen. Taylors Mum nimmt das kleine Mädchen in den Arm, flüstert ihr was ins Ohr, dass das Mädchen zum Lächeln bringt.

Raph nimmt meine Hand, tritt mit mir vor. Ich wage es nicht nach unten zu sehen, lasse die Rose schnell fallen, als hätte sie Feuer gefangen. Mitleidige Blicke bohren sich in meinen Hinterkopf, lassen mich schneller Atmen.

"Leb wohl Man.", murmelt Raph leise, eher zu sich selbst. Ich kann nichts sagen, ich weiß nicht was. Letzte Worte sind absolut schwachsinnig, weil sie niemals bei ihm ankommen werden. Außerdem habe ich ihm nichts zu sagen. Zwischen all der Trauer um meine Schwester empfinde ich für Taylor nur eine unbändige Wut. Eine Wut darüber, wie er sich so feige aus dem Staub hat machen können, wie er einfach gegangen ist, es sich leicht gemacht hat. Ich hatte diese Entscheidung nicht, ich MUSSTE damit klar kommen, ich konnte mich vor dem ganzen Beerdigungs Scheiß nicht drücken. Ich bin wütend, weil er mich allein gelassen hat und genau wusste wie sehr ich leiden würde, wie sehr ich ihn gebraucht hätte, wie gut es mir getan hätte den Schmerz zu teilen, gemeinsam mit ihm zu trauern.

Deshalb lasse ich die Rose fallen ohne schöne Worte zu flüstern oder ihm zu sagen das ich ihn gern gehabt habe, er für mich der beste Nachbar der Welt war und noch vieles mehr, denn diese Worte hatte er nicht verdient, nicht nach diesem feigen Abgang.

Raph nimmt meine Hand, sieht mir flehend in die Augen in denen sich jetzt Tränen sammeln.

"Du solltest dich verabschieden Bella."

"Ich habe diesem Jungen nichts zu sagen.", erwider ich bestimmt mit einem letzten verächtlichen Blick auf das Grab.

Auf Taylors Grab wird Erde geworden. Seine Mum macht den Anfang, die anderen folgen nach und nach während ich mich frage wie er zulassen konnte, dass meine Schwester stirbt, wie er es nicht verhindern konnte. Mittlerweile ist man sich sicher, dass Jack Kiki erschossen hat und es wird nach ihm gesucht. Seine Eltern werden vom ganzen Dort verachtet, geschändet. Mir ist das nur Recht, sie sollen bezahlen, jede Minute sollen sie daran erinnert werden was ihre Schande von Sohn getan hat, was er ist. Ein kaltblütiger Mörder!

Als Taylor unter der Erde ist, kommt Kikis Sarg an die Reihe.

Meine Wut verpufft und der Schmerz drängt sich an die Oberfläche. Sie war meine Schwester, meine bessere Häfte. Ohne sie bin ich nicht komplett, so als würde ein Teil meines Herzens verfault sein. Ich vermisse sie, mit jeder Faser meines Körpers die noch nicht vollkommen taub ist.

Meine Mutter fängt häftig an zu weinen als die ersten Rosen auf den Sarg gelegt werden. Allesamt sind sie weiß, genauso farblos wie Kikis Gesicht als man sie aus dem Wasser holte.

Zu guter letzt lege ich meine Blume auf den Sarg, streiche leicht darüber in der Hoffnung sie möge meine Berührung durch den Sarg spüren, wissen dass ich hier bin und um sie trauer.

Ich lege meine Blume aufs Grab. Es ist keine Rose. Es ist ein Gänseblümchenkranz. Genau genommen ist es die Art von Kranz die sie früher immer geflochten hat und getragen hat wie eine Prinzessin ihre Krone.

"Eine echte Prinzessin braucht auch noch im Grab eine Krone. Hab dich lieb Kiki.", hauche ich, beobachte wie die Regentropfen an den Blütenblättern der Gänseblümchen nach unten tropfen, so als würden selbst die Blumen weinen.

So wandert auch meine Schwester unter die Erde. Als die Särge keine 5 Meter von einander entfernt unter der Erde liegen, fängt es an zu hageln. Durch das laute Donnern höre ich die Beleidsprüche der Leute fast nicht, nicke immer nur wie ein Roboter, gebe brav jedem die Hand.

Tim verschwindet nach der Beerdigung. Er hat nicht geweint, nicht im Gottesdienst und nicht hier. Er hat Paige im Arm gehalten, sie getöstet und die Rose für sie aufs Grab gelegt. Paige ist mir in den letzten Tagen eine bessere Freundin geworden. Es tat gut mit ihr zu reden, sich gegenseitig halt zu geben.

Sie bereut ihre letzten Worte an Taylor, dass sie ihn angeschrien hat, ihn beleidigt hat. An Taylor will ich eigentlich nicht mehr denken. Die Wut würde mich um den Verstand bringen und das kann ich mir nicht leisten. Ich muss stark bleiben, für meine Eltern.

"Alles okay?", flüstert Raph mir ins Ohr als wir alleine auf dem Friedhof stehen da alle nach Hause gegangen sind.

"Ja. Ich muss alleine sein."

Raph versteht sofort, küsst mich liebevoll auf die Stirn und geht. Jetzt stehe ich hier, der leichte Hagel peitscht auf mich ein während ich auf den Grabstein von Kiki starre.

Und als ich dort völlig durchnässt im schlammigen Boden knie und der Wind mir das Haar aus dem Gesicht bläst, schließe ich die Augen und lausche dem Wind der durch die Bäume weht.

Dann höre ich es, wie der Wind leise und schwach meinen Namen flüstert und tief in mir weiß ich, dass ein Teil von Kiki geblieben ist, hier bei mir ist und mich niemals verlassen wird. Und dann schleicht sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen und die Tränen die in Strömen über meine Wangen laufen sind teilweise Tränen der Hoffnung.

Bad Romeo and broken JuliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt