Der Vierzehnte

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Tot. Das ist es, was die milchfahlen Wale sein sollten. Großmutter hatte mir als Kind erklärt, dass die letzten bereits tausende und abertausende Tage vor meiner Geburt verschwunden sind, irgendwo in der namenlosen Stratosphäre, von der kein Mensch weiß, wie sie entstanden ist. Die Häuptlinge und andere Stammesweiber hatten es bestätigt. Und doch sehe ich nun, wie eine ganze Schule von ihnen durch die Wolken schwimmt, schwerelos, bleich, knapp über den Rand der Welt.

Das ist das Ende, denke ich. In mehrerer Hinsicht. Die riesige Schlucht, die anscheinend keinen Grund und keine andere Seite hat, scheint mit mir zu reden. Während ich in sie hineinstarre, flüstert sie mir irgendetwas zu, in einer Sprache, die nur die Stammesweiber verstehen konnten. Ich erinnere mich noch genau, wie sie in Nächten, in welchen die Monde nicht schienen, Feuer aus gelbem Gras schlugen und einen Blick in die Flammen der Zukunft warfen, während die beschnittenen Schattensänger mit den hellen, schrillen Stimmen von Eunuchen böse Geister vertrieben. Immer, wenn sie aus der Trance erwachten, sagten sie uns, wir sollten nach Westen ziehen, Westen, Westen, wo die Zeit und der Raum sich paaren und die Sterne blutend vom Himmel fallen. Wenn sie diesen Abgrund damit meinten, bin ich froh, dass sie die Reise nicht überlebt haben.

Mit meiner linken Hand, die, an der mir noch drei ganze Finger geblieben sind, ziehe ich meine Machete vom Rücken. Mit ihr habe ich Engelsmacher und Flugrösser getötet, grüne Rankenvetteln und gesichtslose Esser. Alles für den Stamm. Alles fürs Überleben. Jeder, der in diese Welt geboren wird, weiß, dass er entweder zu töten oder zu sterben hat. Da gibt es keinen Mittelweg. Großmutter, sie war ein Stammesweib, hat mir einmal erzählt, dass unsere Ahnen einmal in einer Welt des Überflusses lebten, ehe die Götter von den Sternen kamen und den Sinn aus der Welt zogen. Sie schrieben die Gesetze der Physik neu, verbrannten die Natur zu schieren Nonsens, brachten Plagen und Bestien und Männer ohne Verstand über die Erde. Meine Machete, die zuvor die Machete von Ela'ac, dem Roten, und Darla mit den 30 Zähnen vor ihm war, hat diese Zeit überlebt und besteht aus einem Material, welches man Eisen nannte. Härter als Knochen und fester als Holz. Ohne Zweifel ist sie das Wertvollste, was wir je von den Karawanen der Zeitfresser erbeutet haben.

Wortlos werfe ich sie in den Abgrund und sehe, wie sie im Nichts verschwindet. Ich erwarte nicht, das Geräusch zu hören, was entsteht, wenn ein Objekt den Boden trifft.

Ein mattes Lächeln zuckt über mein Gesicht, nur, um sich in Verzweiflung zu verwandeln. Soll ich jetzt etwa zurückkehren? Nach Osten, zu den riesigen Schachfelderfeldern und den Steinhänden der Ruinen, die nach mir greifen? Wo die Zebrahirten mich zerfleischen, wenn ich ihrer Herde zu nahe komme und Scheinschwestern mich in ihre Höhlen singen wollen? Den ganzen Unsinn meines Lebens noch einmal ertragen? Nein, alles, nur das nicht. Nach Norden kann ich auch nicht ziehen, dort soll es ein riesiges Binnenmeer geben, voller übersüßtem Wasser, wo sich angeblich die allerletzten Fische tummeln, die es auf der Welt gibt. Was genau ein Fisch ist, weiß ich nicht genau, aber Großmutter hat sie stets als Ungeheuer beschrieben, schuppig und sogar mit Flossen an ihren Seiten! Die Stammesweiber sagten auch, es gäbe keinen Süden. Der Süden sei eine Illusion, das Werk einer neunäugigen Hexe, deren Name so schrecklich ist, dass man allein von seiner Aussprache den Verstand verliert. Wer weiß, ob das stimmt, aber ich verspüre nicht das Bedürfnis, es herauszufinden. Der Westen ist die einzige Richtung, der es zu folgen gilt, aber der Westen endet hier.

Ich merke, dass ich zu weinen anfange, das erste Mal, seitdem ich ein Kind war. Mein ganzer Körper bebt, meine Finger ballen Fäuste und ein Schrei bleibt auf halbem Weg in meiner trockenen Kehle stecken. Ich presse die 12 Zähne, die mir geblieben sind, aufeinander, scharre mit ihnen, bis mein Zahnfleisch zum dritten Mal an diesem Tag blutet. Ich will das nicht! Weinen ist für Milchtrinker und Schattensänger, aber nicht für Männer. Und ich bin ein Mann, der letzte Mann, der letzte aus dem Stamm, den die Ruinenhände nicht in die Tiefe gezogen haben. Der, den die Scheinschwestern nicht bei lebendigem Leib die Haut abrissen und Salz ins Fleisch streuten. Der letzte, der nicht von den Türmen und Springern der Schachfelder zertreten und von den Ameisenkaiserinnen zerrissen wurde. Ich habe überlebt, alles, was die Ahnen und Götter und Geister mir geschickt haben. Ich habe es verdient, in den Westen zu gelangen, den echten Westen und nicht diesen Abgrund.

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