Desensibilisierungstherapie

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Winter öffnete die Türe des unauffälligen Miethauses am Scarangella Park in Brooklyn, New York City, und begrüßte den teuer gekleideten, weißhaarigen Mann, dessen Augen hinter den dunklen Gläsern der selbsttönenden Brille fast verborgen blieben.

„Treten Sie ein, Don Gruccione! Ich freue mich außerordentlich, dass Sie Zeit für mich gefunden haben."

- „Mio caro Winter! Wir beide kennen uns schon viele Jahre, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie mich schon einmal in Ihr Haus zu einer Tasse Kaffee eingeladen haben. Was verschafft mir das Vergnügen?" -

„Questo e quello! Ich war eine Weile in Europa und möchte, was die Angelegenheiten hier vor Ort betrifft, wieder auf den neuesten Stand kommen, gewissermaßen. Und ich dachte, das wäre zugleich eine gute Gelegenheit, unsere Freundschaft zu bekräftigen."

- „Unsere Freundschaft? Sie haben nie Wert gelegt auf meine Freundschaft. Sie haben Sich gefürchtet, in meiner Schuld zu sein."

„Sagen wir... ich wollte nur keine Unannehmlichkeiten haben."

- „Ja, ich weiß. Ihre Geschäfte gehen gut, die Polizei belästigt Sie nicht. Wozu noch einen Freund wie mich? Dabei hätte es ein Mann mit Ihren Talenten schon weit bringen können - mit den richtigen Freunden." -

„Don Gruccione, wie oft haben Sie Sich umgedreht auf der Fahrt hierher? Und wie viele Male haben Sie den Wagen gewechselt? Wir wissen doch beide, dass Sie keinen Schritt aus dem Haus machen können, ohne dass Ihnen FBI, DEA, CBP und NYPD ihre Spürhunde hinterherschicken. Ein Preis des Erfolges, den ich nur ungern zahlen würde."

- „Winter, Winter, was hab ich Ihnen denn bloß getan, dass Sie mich so respektlos behandeln? Sie reden von Freundschaft, aber Sie verspotten mich. Und Sie sagen nicht einmal Pate zu mir." -

„Ich bitte um Vergebung, Don Gruccione, wenn ich mich respektlos verhalten habe sollte. Ich wollte Sie mit meinen Worten nicht kränken; nur, solange ich mein Auskommen habe, bevorzuge ich es, unabhängig zu sein. Als Freiberufler fällt es mir leichter, unter dem Radar der Ermittlungsbehörden zu bleiben. Außerdem mache ich ungern halbe Sachen; und als jemand, der nicht einen Tropfen italienischen Blutes in sich hat, kann ich nun mal kein vollwertiges Mitglied der Familie werden."

- „Und warum bitten Sie dann ausgerechnet jetzt um meine Freundschaft? Ich hoffe doch nicht, dass Sie das nur tun, weil Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken." -

„Don Gruccione, ich versichere Ihnen, dass ich nicht die Absicht habe, Sie mit unbotmäßigen Wünschen zu behelligen, im Gegenteil. Ich möchte mit Ihnen eine Sache besprechen, die für Sie von größtem Interesse sein dürfte. Eine Sache, die ich, wenn sie einen Bekannten beträfe, zuerst der Polizei melden würde. Ein Freund allerdings kommt vor der Polizei. Aber setzen wir uns doch. Bei Kaffee und Kuchen plaudert es sich leichter."

- „Vielen Dank, mein lieber Winter! Ich muss sagen, dass der Kuchen sehr verlockend aussieht. Darf ich fragen, wo Sie ihn herhaben?" -

„Nun, ich habe mir erlaubt, den Kuchen selbst zu backen, da ich keinen hiesigen Bäcker gefunden habe, der ein Pendant angemessener Qualität anbietet. Es handelt sich übrigens um eine deutsche Spezialität, der Sage nach erfunden in einem kleinen Ort am Mittelrhein."

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