Unerwarteter Urlaub

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Er schritt langsam die verregnete, Pfützen bildende Landstraße hinab und fröstelte in der klirrenden Kälte des gigantischen Sturms, der sich fast zu einem wilden Tornado entwickelt hatte. Ein blauer Volkswagen mit hellleuchtenden Xenon-Scheinwerfern fuhr an ihm vorbei. Paul konnte das Gesicht des Fahrers nicht erkennen, aber er vermutete stark, aufgrund des ausgeblichenen Greenpeace-Aufklebers am verbeulten Heck des Autos, dass er ein älterer Hippie war.

Sein Ziel war das alte, aber trotzdem äußerlich gemütlich erscheinende Landhaus an der steilen, bröckeligen Felsklippe im Westen. Schon am Morgen hatte er sich Proviant für die Wanderung in seinen schwarzen Rucksack gepackt. Eine durchsichtige Glasflasche, gefüllt mit klarem Wasser, ein paar bröselige Haferflockenkekse mit Rosinen, zwei leicht eingedrückte Äpfel, die schon einige Beulen hatten, da die rote Tupper-Brotdose einige scharfe Kanten hatte, und ein selbst geschmiertes Mayonnaise-Thunfisch-Sandwich.

Seinen zerknitterten, hellgrünen Regenschirm hatte er ebenfalls mühevoll eingepackt, jedoch war er im hässlichen Antlitz des tosenden Donnersturms bereits derartig umgeknickt, dass Paul es nicht geschafft hatte, trotz seiner außerordentlich überentwickelten handwerklichen Kenntnisse den Regenschirm wieder zu reparieren, und daher hatte er ihn achtlos, ärgerlich und mit voller Wucht in den wild zugewucherten Straßengraben geschmissen.

Der Tag, der so wunderschön angefangen hatte, wandte sich langsam der Nacht zu, sodass Paul in fast totaler und absoluter Dunkelheit die letzten paar Meter zu dem ältlichen Landhaus gehen musste. Dennoch kam er unversehrt nach einigen entspannt verstreichenden Minuten an und öffnete die schwere, aber leicht vermoderte und mit grünen Moosflecken bewachsene Eingangstür, die in den zugigen, aber dennoch warm beheizten Flur des großen Hauses führte.

In dem hochkantigen Urlaubsplaner aus deutschem Hause, den er von seiner Mutter per Eilpost zugeschickt bekommen hatte, war davon die Rede gewesen, dass sich furchtlose Abenteurer bei der Agentur melden konnten, falls sie einige Tage in dem berüchtigten Spukhaus verbringen wollten. Und das selbstverständlich voll und ganz allein auf sich gestellt. Abgeschottet von der fernen Außenwelt. Ohne ein eigenes Telefon. Ohne das griffbereite Handy. Ohne irgendeine verfügbare Hilfe von der nächstgelegenen Stadt namens Trauweyer, die bestimmt drei Kilometer weit entfernt lag.

In dem Urlaubsplaner stand, dass Paul alleine in dem Haus wohnen würde. Allein diese Tatsache machte ihm bereits große, regelrecht lähmende Angst, sodass er sich schnell in das geräumige, wenngleich verstaubte Wohnzimmer zurückzog, in dem ein warmer, kantiger Holzofen brannte und den ganzen Raum in ein merkwürdiges bis hin zu unheilvolles Flackern einhüllte, dass man es als wenig geschulter Geist mit der Angst bekommen konnte. Paul holte aus seiner schweren Reisetasche einige gemütliche Kleidungsstücke heraus, mit denen er es sich bequem machen konnte - darunter eine blaue, ausgeleierte Jeans und ein weites Nerd-Tshirt mit einem weiblichen Charakter aus seinem Lieblings-Anime - und wechselte diese Kleidung mit der vollkommen durchnässten und an seinem Oberkörper klebenden Wanderbekleidung, die er über einen plüschbezogenen Sessel zum Trocknen hing.

Dann ging er zielstrebig zu einer anderen Tür, öffnete sie und schritt die steinige Kellertreppe, an der ein modriger Geruch hing, hinunter in den unbeleuchteten Raum. Er knipste galant das Licht an, das kurz einige Male aufflackerte, bevor es ganz zu brennen begann und Pauls blutverschmiertes Lächeln sichtbar wurde. Vor ihm lagen ein Dutzend Leichen. Links lagen die Menschen, die schon länger tot waren, an denen kaum noch klumpige Fleischreste zu finden waren, sondern nur das grelle Hell der weißen Knochen. Rechts lagen die Menschen, die noch nicht so lange tot waren - dort konnte Paul die vollgefressenen Würmer und Maden beobachten, wie sie sich durch die saftigen, noch rötlich aussehenden Fleischreste wühlten, die bald schon jegliche Farbe verloren haben würden. Die vergilbten Augäpfel starrten panisch an die raue Betondecke. Es kamen immer wieder leichtsinnige Urlauber, die sich trauten, die Spukhütte von Paul zu betreten. Keiner hatte ihre Schreie hören können.

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