Kunst

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Wofür arbeitet ein Künstler? Für seine Zuschauer, Anhänger und Bewunderer? Nein! Für das Geld, was er für Gemälde, Konzerte und Stücke bekommt? Nein! Für Ruhm, Anerkennung, Bewunderung? Nein! Nein! NEIN! Wofür arbeitet er dann? Für Perfektion! Um seine Arbeiten zu perfektionieren! Um besser zu werden und besser zu sein! Perfektion! Perfektion! PERFEKTION!

Ich laufe abends durch den prasselnden Regen. Die Straße ist leer, und unter meinem Regenschirm bin ich das einzige Lebewesen, was die dunkle Straße belebt. Die Lichter der Reklametafeln blinken hell und beleuchten schwächlich die Gasse. Ich pfeife vor mich hin, während die Enden meiner Hosenbeine vom Wasser auf dem Asphalt nass werden. Der Regen wird stärker. Als ich in einem überdachten Türeingang stehen bleibe und aufhöre zu pfeifen, bemerke ich etwas: Die Musik geht weiter. Ich horche auf, als sich mein starrer Blick vom fallenden Regen löst und ich aus meinen Gedanken gerissen werde. Hinter meinem Rücken dringt diese Musik an mein Ohr. Verwundert wende ich mich zu der Stahltür, aus dessen Ritzen die Töne entweichen. Schaurig schöne Melodien erklingen im nächtlichen Regen. Stumm vor Begeisterung drücke ich gegen die Tür, und verwundert und ungläubig trete ich ein, als sie nachgibt und sich öffnet. Ich stehe in einem dunklen Korridor, der von einer einsamen Lampe an der Seite beleuchtet wird. Die Musik wird lauter. Neugierig gehe ich den Flur entlang, auf den Ausgang zu... hin zu dieser Musik. Sie zieht mich an.

Ich erreiche einen helleren Raum. Das Holzparkett klackert bei jedem Schritt. Eine Seite des Raumes ist dunkel. So schwarz, dass man die Wand kaum erkennt. Das Licht ist hier zwar etwas stärker, doch nur in der Mitte des Raumes. Die anderen Wände sind auch nur leicht zu erkennen. Sie sind grau und voll mit seltsamen Gemälden. Mit ungewöhnlich viel roter Farbe hat jemand hier Augen, Nasen, Münder und andere Körperteile gemalt. In der Mitte des Raumes stehen mehrere Staffeleien in einem Halbkreis. Hinter ihnen ertönen die Töne, die in meinem Ohr zu einer geisterhaften Melodie verschmelzen und mir durch ihre Schönheit einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Vorsichtig, fast ängstlich, trete ich im Dämmerlicht auf die Wand aus Staffeleien zu. Ein Mann sitzt dahinter: klein, gebeugt, alt und in seine Musik vertieft. Seine Augen sind geschlossen und Falten liegen in seiner Stirn. Seine Haare sind lang, doch verlieren sie bereits ihre Farbe. Er hält eine Geige in der einen Hand, in der anderen einen Bogen. Beide sehen seltsam aus. Nicht holzfarben, sondern weiß. Die Form der Violine ist unüblich. Sie sieht aus, als wäre sie aus vielen unförmigen Stücken zusammen geleimt worden. Der Künstler spielt weiter. Offenbar hat er mich nicht bemerkt. Kein Wunder: Auf sein musikalisches Spiel konzentriert und ganz in den Noten versunken, die auf dem Notenständer vor ihm liegen, sitzt er auf seinem Stuhl und spielt. Die Staffeleien kreisen ihn ein. Wie ein Raum in einem Raum, in dem seine Kunst fließt und seine Inspiration Werke schafft.

„Entschuldigung... ich... ich habe ihre Musik gehört", beginne ich ruhig, „draußen auf der Straße. Es regnet und mir gefiel ihre Musik so gut, dass ich dachte, ich trete kurz ein." Ein letzter hoher Ton erklingt und wird ausgehalten. Mit einer beendenden Geste schließt er sein Stück ab. Er öffnet seine Augen. Sie sind eisblau und haben etwas Durchdringendes. „Ein Fremder..." Seine Stimme ist kratzig und klingt wie ein steinernes Tor einer Gruft, welches sich langsam öffnet. „Ich hab die Musik gehört und draußen regnet es und da dachte ich, dass ich vielleicht hier drinnen etwas hören könnte." wiederhole ich. „Sind sie hereingekommen, weil es regnet, oder...", er macht eine kurze Pause, „hat sie die Musik hergeführt?" Sein alter Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Ein wissendes Lächeln, so als kenne er bereits die Antwort. Ich denke kurz nach, doch eigentlich ist mir klar, dass er Recht hat. „Es... war die Musik.", gebe ich verblüfft zu. „Perfekt. Dann heiße ich sie Willkommen" erwidert er freundlich und erhebt den alten Körper von seinem Stuhl. Es wirkt, als würde sich ein künstlerischer König von seinem musikalischen Thron erheben. „Kommen sie nur herein.", bittet er mich. „Das war wirklich schön. Was war das für ein Stück, was sie da gespielt haben? Etwas von Mozart oder Beethoven? Bach?" Er lacht leicht auf. „Nun ich danke ihnen für diese Frage. Tatsächlich habe ich diese Etüde selbst komponiert." Immer noch die weiße Violine und den Bogen in den Händen deutet er auf eine Tür an der Seite. „Lassen sie uns doch etwas trinken: Was kann ich ihnen anbieten? Vielleicht einen Tee?" fragt er mich. „Ich trinke eigentlich keinen Tee...", beginne ich, doch er unterbricht mich: „Keinen Tee?! Nun mein Freund", er starrt mir direkt in die Augen und ich bekomme eine Gänsehaut, „Tee ist das Getränk der Weisen und der Künstler. Er befreit den Geist und beruhigt den Körper. Sie wären erstaunt, was für Teesorten es gibt und welche Effekte diese haben.", erklärt er mir. Er ist etwas merkwürdig, aber Künstler sind ja meistens etwas exzentrisch. "Natürlich", beginnt er wieder, "gewöhnliche Bürger verstehen von solch erfrischenden Genüssen nichts. Die Gesellschaft trinkt ja nur noch irgendwelche zuckerhaltige Chemie. Aber meinetwegen, kein Tee." Mittlerweile bin ich verwundert, was für einen alten und rückständigen Kauz ich da vor mir habe. Naja, viele alte Leute können sich nicht an den Fortschritt der Zeit anpassen. Dennoch fühle ich mich in der Gegenwart diesen alten Mannes etwas unwohl. Sein eindringlicher Blick haftet schon eine ganze Weile auf mir. „Folgen Sie mir.", fordert er mich freundlich aber bestimmt auf. Er geht vor, und ich folge ihm. Mir ist mulmig, doch ich möchte nicht unhöflich sein. Wahrscheinlich ist er ganz nett und nur etwas sonderbar, wie alte verschrobene Künstler eben sind.

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