Entfremdung

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Helena lag verschwitzt und müde im Bett, wälzte sich schlaflos von einer Seite auf die andere und blieb schließlich auf dem Rücken liegen. Sie lauschte dem ruhigen Atem ihres Mannes, der neben ihr schlief und beobachtete die Fliegen, die summend im Halbdunkel über dem Bett einen bizarren Reigen tanzten.
Seit die Jalousie im Schlafzimmer auf halber Höhe festklemmte, konnte sie nicht mehr richtig schlafen. Die Sommerhitze drang tagsüber mit der Sonne in den Raum und verwandelte das Schlafzimmer in einen Backofen. Nachts störte das Licht der Straßenlaterne, die wie ein gelber Scheinwerfer durch das Fenster leuchtete und das Zimmer in diffuses Zwielicht tauchte.
Markus hatte keine Probleme damit. Weder mit der Hitze, noch mit der fehlenden Dunkelheit, er schlief selenruhig wie ein Baby. Helena beneidete ihn einen Augenblick lang, dann stand sie seufzend auf, schleppte sich träge ins Bad und duschte kalt.
Das half gegen die Hitze. Ihr Kreislauf kam wieder auf Touren und die dumpfe Trägheit des Schlafmangels wich einer leichten Mattigkeit. Als sie die Dusche, mit einem Handtuch bekleidet, verlies, klingelte nebenan der Wecker. Ein schlaftrunkenes Stöhnen, gefolgt von schlurfenden Schritten und Markus stand in der Tür.
„Morgen Schatz", sagte er gähnend, trat vor die Toilette und klappte Deckel samt Brille hoch, „Hast du wieder nicht geschlafen?"
„Nein", erwiderte Helena gereizt, „Du wolltest die Jalousie reparieren. Mach das endlich, anstatt den ganzen Tag im Keller zu werkeln."
„Mann, hast du schlechte Laune", er sah nur kurz auf, um das wütende Funkeln in den Augen seiner Frau zu registrieren, dann galt seine Aufmerksamkeit dem Strahl Morgenurin, den er möglichst grade in die Keramik zielte.
Sie schnaubte genervt: „Hab ich auch, kann ja nicht schlafen mit dem Flutlicht vor dem Fenster. Und du kümmerst dich nicht drum!" Die Anklage schwebte einen Augenblick lang zwischen ihnen.
„Beruhig dich wieder. Gleich nach Feierabend werde ich die Jalousie reparieren. Versprochen." Markus betätigte die Spülung und wollte seine Frau versöhnlich in den Arm nehmen, doch Helena war nicht nach Schmusen zu mute. Sie wich ihm aus und verließ das Bad, um sich für die Arbeit fertig zu machen.
Aus dem Flur rief sie in versöhnlicherem Ton: „Vergiss nicht, den Deckel wieder runter zu klappen, sonst bekomme ich noch mehr schlechte Laune."

Im Büro staute sich die Hitze genauso wie Zuhause.
Helena hatte das Gefühl, die Welt schrumpfe unter einer erstickenden Käse- Glocke zusammen, bis es nur noch das Surren der Drucker und PCs, summende Fliegen und das Flap-Flap-Flap der alten Deckenventilatoren gab. Es roch nach heißer Elektronik und saurem Schweiß.
Die Büros der einfachen Mitarbeiter waren nicht wichtig genug, um auf elektrische Klimaanlagen umgerüstet zu werden. Die Chefs eine Etage höher, saßen jetzt entspannt in wohl temperierten Räumlichkeiten und genossen die Vorzüge der Technik.
Helena war frustriert, der Schlafmangel störte ihre Konzentration. Die Warenbestellung, die sie seit zehn Minuten bearbeitete verschwamm immer wieder vor ihren Augen. Das Atmen fiel ihr schwer, als weigerte sich die stickige Luft in die Lunge eingesaugt zu werden.
Zur Mittagspause hatte ihre Laune den Tiefpunkt erreicht. Sie schaltete die Geräte aus und nahm sich frei. Ihrem Chef legte sie einen Urlaubsantrag bis Ende der Woche mit offenen Überstunden auf den Tisch und ging, bevor sie den bewilligten Antrag zurückbekam. Sie nahm sich vor, morgen in der Firma anzurufen, um die Sache zu klären. Aber so wie sie ihren Chef kannte, dürfte das kein Problem darstellen.

Die Sonne brannte auf die Erde, als wolle sie jedes Lebewesen verbrennen. Die Hitze flimmerte über den Straßen und erzeugte Luftspiegelungen. Kein Windhauch regte sich in der flirrenden Atmosphäre. Alles, was Beine hatte, floh in den Schatten.
Nur das Zirpen der Insekten zeugte noch von Leben.
Helena war in den Keller geflüchtet, hatte die alte Militärliege aufgebaut, die sie sonst für Übernachtungsgäste bereitstellte und starrte träge an die Decke. Die Augen wollten nicht geschlossen bleiben, der Schlaf ließ auf sich warten. Sie zählte die Reihen der Konserven im Vorratsregal, die Holzbalken der Kartoffelkiste, lauschte dem leisen Brummen der Gefriertruhe.
Waren es jetzt drei, oder schon vier Tage, in denen sie nicht mehr geschlafen hatte? Sie wusste es nicht. Die vergangene Woche verschwamm in ihrer Erinnerung zu einer Abfolge aus hellen und dunklen Episoden, gefüllt mit Eindrücken aus träger, stickiger Luft, klebriger, verschwitzter Haut und dem ewigen Summen der Fliegen.
Aus dem Werkraum nebenan drang ein leises Scharren.
Helena horchte auf. Hatten sich etwa Mäuse im Keller eingenistet?
Zwei Herzschläge verstrichen, in denen sie angespannt lauschte. Dann raffte sie sich ächzend auf und schlurfte aus dem Vorratsraum in den kleinen Flur, der zur Kellertreppe und zum Heizungsraum führte. Unter der Treppe befand sich die Tür zum Werkraum. Eine, aus rohen Holzlatten grob gefertigte Kellertür, die nicht richtig in die Angeln passte und mehr als Sichtschutz diente, statt als Tür zu fungieren.
Die Tür knarrte trocken als Helena sie öffnete.
Dahinter erstreckte sich Markus' Reich, ein chaotischer Werkraum zum Basteln und Heimwerken. Die gegenüberliegende Wand wurde von einer langen Werkbank beherrscht. Hier stapelten sich Schraubzwingen, Rohrzangen, Maulschlüssel, Seitenschneider und die angefangenen Projekte, unordentlich zu verschieden großen Haufen getürmt.
Missbilligend musterte Helena das Chaos.
Im Regal neben der Tür lagen diverse Koffer für Bohrmaschine, Stichsäge, Winkelschneider und ein Knäul Verlängerungskabel. Mehrere Kartons quollen über, gefüllt mit dem gleichen Sammelsurium aus Schrauben, Nägeln und Dübeln.
Sonst gab es nichts zu entdecken. Nichts, dass hier hätte Scharren können. Helena blickte sich angestrengt in dem Raum um, aber da war nichts.
Das Geräusch der Klingel schreckte sie auf und sie machte sich schlecht gelaunt auf den Weg zur Tür. Die Hitze im Haus war unerträglich.
Ein Paketbote brachte eine Lieferung für Markus.
Helena quittierte den Empfang. Das Paket war schwer und der Inhalt klirrte metallisch.
Neue Teile für die Unordnung auf der Werkbank.
Helena platzierte das Paket neben der Tür, unwillig den schweren Karton woanders hin zu tragen. Ziellos tappte sie durch das Haus, schlurfte die Treppe rauf zum Schlafzimmer, das sich schon wieder in einen Brutofen verwandelt hatte, stand einen Moment unschlüssig im Bad nebenan, bis sie die Treppe wieder runterschlurfte, den Flur entlang, vorbei an Küche und Kellertür und betrat das Wohnzimmer.
Das Sofa wirkte auf einmal sehr einladend. Sie sackte aufs Polster, schaltete den Fernseher ein und seufzte frustriert.
„Die aktuelle Hitzewelle dauert bis auf Weiteres an. In den kommenden Nächten ist nicht mit einer Abkühlung zu rechnen. Die Waldbrandgefahr ist enorm angestiegen, die Bevölkerung wird gebeten, bewaldete Gebiete aus Sicherheitsgründen zu meiden. Der bundesweite Aufruf, sparsam mit dem Trinkwasser umzugehen, wird noch einmal verschärft. Die Bürger sind dazu angehalten, vorhandene Swimming- Pools nicht mit Leitungswasser zu füllen und Gartenbesitzer ihre Pflanzen nicht mit Leitungswasser zu bewässern. Das Waschen von Kraftfahrzeugen ist nach Möglichkeit ebenfalls zu vermeiden. Wir melden uns wieder zur Tages-"
Zapp. „Ey, Schwuchtel, was willssu? Isch hab-"
Zapp. „Kennen Sie das, wenn ihre Waschmaschine wieder-"
Zapp. „-und im Schatten dieses gewaltigen Gipfels beginnt die Wüste. Hier ist das Todestal, die furchtbarste aller Wüsten. Der tiefste Punkt des amerikanischen Kontinents."
Zapp. Zapp. „Der Weltraum. Unendliche-"
Zapp.
Helena schaltete desinteressiert durch alle Kanäle, bis sie auf einem Musiksender hängen blieb. Mit halbgeschlossenen Augen döste sie vor sich hin. Grade, als sie das Gefühl hatte, endlich einzuschlafen, wurde die Haustür rabiat aufgeschlossen.
„Oh, mein Paket ist da!"
Gepolter und schlurfende Schritte ertönten.
„Helena Schatz, ich bin zu Hause! Hey, schläfst du etwa?"
Helena brummte schlecht gelaunt und öffnete mühsam die Augen. Markus stand vor dem Sofa, mit dem Paket unterm Arm. Er strahlte wie ein kleines Kind an Heilig Abend.
„Wie denn, wenn du hier rumbrüllst?", beschwerte sie sich.
„Oh, tut mir leid. Dann leg dich wieder hin. Ich bin im Keller." Flötete er und verschwand.
Helena fühlte Zorn in sich aufsteigen.
„Was ist mit der beschissenen Jalousie?", rief sie ihm hinterher.
„Mach ich später mein Schatz! Versprochen!" Tönte es aus dem Kellerabgang.
Sie seufzte resigniert. Es war zu heiß, um hinterher zu laufen, nur, um sich zu streiten. Also schluckte sie den Ärger herunter.
In den kommenden Nächten ist nicht mit einer Abkühlung zu rechnen, fuhr es ihr durch den Kopf. Die Jalousie änderte nichts daran. Sie schaltete den Fernseher aus. In der drückenden Stille hörte sie ihr Herz schlagen, die Uhr an der Wand schlug im Takt dazu. Dann brummte eine Fliege durch den Raum und prallte surrend gegen das Fenster.
Der Zorn wallte erneut in ihr auf.
Nicht wegen Markus, nein, der Schlafmangel war schuld. Sie war mit den Nerven am Ende. Eine Abkühlung und dann Schlafen. Ja, das würde sicher funktionieren. Sie raffte sich auf, taumelte ins Bad und stieg zum zweiten Mal an diesem Tag unter die Dusche.
Danach öffnete sie im Schlafzimmer Fenster und Tür und erzeugte auf diese Weise einen minimalen Durchzug, der die abgestandene, stickige Luft erneuerte. Die Temperatur sank dadurch zwar nicht, aber wenigstens roch die Luft nicht mehr so verbraucht. Helena warf sich aufs Bett und blieb liegen, wie sie gefallen war.
Die Fliegen tanzten immer noch ihren Reigen um die Lampe. Um das Summen nicht mehr hören zu müssen, griff sie nach dem Telefon und machte leise Musik an. Träge döste sie vor sich hin, bis sie in einen leichten Schlaf hinüberglitt.

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