Die Totenuhr

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DONGGGGGGGGDONGGGGGGGGDONGGGGGGGGGGGGGG... langsam verschwebte der letzte Schlag der großen Pendeluhr seinen dunkel-gravitätischen Klang in die Stille der vornehmen Gründerzeitvilla. Gerade noch alles durchdringend, wurde er immer leiser und leiser, bis man ihn nur noch als Ahnung wahrzunehmen glaubte; so wie den unbestimmten, aber doch unverkennbaren Duft eines Raums, der lange einen Pfeifenraucher beherbergt hatte. Veronika verabscheute den Ton. Sie verabscheute seinen Klang, seine Dauer, seine Höhe, seinen Rhythmus, seinen Nachhall... sie hasste das ganze vermaledeite Monstrum von einer Uhr. Und mit ihr hasste sie denjenigen, der dieses feinmechanische Kunstwerk geschaffen hatte: ihren Mann.

Eigentlich war es gar nicht die Uhr, die sie hasste. Die Uhr war nur ein Symbol, eine Projektionsfläche, auf die sie ihren Hass warf, ein Sündenbock, dem sie die Schuld auflud für alles, was sie sich erhofft hatte von ihrer Ehe und was so elendiglich schiefgelaufen war an ihr. Es war leichter, tröstlicher, der Uhr die Verantwortung zu geben, diese als Nebenbuhlerin zu betrachten, welche ihr zuerst die Aufmerksamkeit, dann die Zeit und zuletzt die Liebe ihres Mannes entzogen und an sich gebunden hatte, anstatt sich selbst einzugestehen, dass es umgekehrt war; dass die Uhr all dies nur erhalten konnte, weil sie, Veronika, ihr den Raum dafür gegeben hatte. Wie so viele Menschen hatte sie in ihrem Mann keinen Partner gesehen, der trotz aller Gemeinsamkeit ein eigenständiges Wesen blieb, sondern eine Ergänzung, die die Lücken ihres Charakters schließen sollte, die sie selbst nicht auffüllen konnte, um sich als vollständiger Mensch zu fühlen.

Der Gerechtigkeit halber sei hier gesagt, dass es ihrem Mann nicht anders gegangen war. Und so war auch seine Liebe zu Veronika in Hass übergegangen, einen Hass, der sich wie bei ihr vor allem aus dem uneingestandenen Selbsthass speiste, die falsche Wahl getroffen und so viele Lebensjahre damit vergeudet zu haben, auf die Erfüllung von Erwartungen zu harren, die der jeweils andere weder kannte noch erfüllen konnte. Vergebliche Hoffnungen und aussichtslose Träume sind schon immer ein guter Nährboden für Wut und Enttäuschung gewesen.

Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielte, weder für Veronika noch für ihren Mann. Der Grund dafür war für beide derselbe: Veronikas Mann lag tot in seinem Krankenzimmer im Anbau, direkt neben seinem Büro, in dem die Uhr stoisch und teilnahmslos ihren Dienst versah. Er hatte schon seit Jahren unter einem Herzleiden gelitten, das ihn in den letzten Monaten immer öfter und länger ans Bett gefesselt und Veronika dadurch gezwungen hatten, ihrem Mann mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, als sie eigentlich zu geben bereit war. Dass sie sich aus Wut darüber bei der Zuteilung seiner Medikamente gewisse kreative Freiheiten genommen hatte, hatte sein Ableben allerdings nur unwesentlich beschleunigt.

Veronikas Wut war noch dadurch gesteigert worden, dass ihr Mann - scheinbar aus reiner Boshaftigkeit - das Gästezimmer neben seinem Büro als Krankenzimmer auserkoren hatte, wodurch sie nicht nur gezwungen war, jedes Mal, wenn er nachts Hilfe brauchte, zwei Stockwerke aus dem ehemals gemeinsamen Schlafzimmer in den Anbau hinabzusteigen, sondern auch den halbstündigen Schlag der Uhr in größtmöglicher Lautstärke zu ertragen - dieser Uhr, der er in den letzten Jahren seines Lebens mehr Feingefühl und Zärtlichkeit entgegengebracht hatte als ihr, seiner ihm vor Gott und dem Gesetz angetrauten Ehegattin. Veronikas Forderung, die Uhr oder zumindest das Schlagwerk außer Betrieb zu setzen, solange er das Zimmer neben dem Büro als Schlafstatt auserkoren hatte, hatte bei ihrem Mann zu einem Tobsuchtsanfall geführt und der Drohung, dies in seinem Testament zu berücksichtigen - ganz sicher nicht zu ihren Gunsten. Und so hatte Veronika das tickende Ungeheuer innerlich kochend ertragen, bis sie vor einer halben Stunde das Krankenzimmer ihres Mannes mit dem Abendbrot betreten und festgestellt hatte, dass dieser sein Nachmittagsschläfchen dafür genutzt hatte, diese beste aller möglichen Welten still und heimlich zu verlassen.

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