Monsterköder

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Ich mache dir keinen Vorwurf.

Ich selbst habe genauso gehandelt, einfach weil ich es nicht anders wusste, so wie du jetzt auch nicht weißt, was du gerade ausgelöst hast. Im Grunde haben wir beide nichts falsch gemacht, außer gute Menschen zu sein. Ein löblicher Charakterzug, der schon so manchen zum Verhängnis geworden ist. Gibt dir das nicht zu denken? Mir schon... aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich kann dich nicht retten vor dem was dir nun bevorsteht, aber ich kann dir erzählen, wie es mir damals erging. Vielleicht wird es dir ja sogar helfen... zumindest wirst du dich danach nicht mehr ganz so alleine mit deinem Schicksal fühlen.

Der Tag, an dem es mir passierte, war ein Tag wie jeder andere auch. Genau wie du, kam ich gerade von der Arbeit, Kopf und Glieder schwer, in Gedanken bereits im heimeligen Schutz der eigenen vier Wände. Es nieselte leicht, und obwohl ich keinen Schirm dabei hatte, verzichtete ich darauf die Kapuze meines Parkers überzuziehen. Du ahnst gar nicht, wie sehr ich diese Entscheidung inzwischen bereue. Womöglich hätte ich das Mädchen gar nicht bemerkt, wäre mein Sichtfeld auf diese Weise eingeschränkt gewesen... doch leider sah ich sie. Sie stand etwa drei Meter von mir entfernt am Bahnsteig und schien, so wie wir alle anderen auch, einfach nur auf die nächste Bahn zu warten. Ich schätzte sie auf etwa fünf Jahre und ich erinnere mich noch gut an meine Verwunderung darüber, dass ein so kleines Kind offenbar ganz alleine in der U-Bahn unterwegs war. Sie war real, das nur vorweg. Ich sah sie so deutlich, wie du mich gerade siehst und etwas an ihr zog meinen Blick wie an einer Schnur zu sich. Womöglich war es ihr Mantel. Dieses grelle, fast schon schreiende Rot, das sich wie ein Signalfeuer von dem grauen Alltag um mich herum abhob. Ich wage fast zu behaupten, dass sie leuchtete... ja... ja, in gewissere Weise tat sie das wirklich. Sie leuchtete aus der Menge heraus, allerdings auf eine Weise, die mich seltsam erschaudern ließ. Irgendwie musste ich bei ihrem Anblick an eine Blume denken. Eine Blume, deren bunte Blütenblätter sich blitzartig um jedes arglose Insekt schließen, das es wagt sie zu besuchen. Du kannst es gerne Instinkt nennen, doch etwas tief in mir rief lautstark, mich von diesem Mädchen um jeden Preis fernzuhalten. Ich glaube, es war dieselbe Stimme, die dich davon abrät ins Feuer zu greifen oder dir beim Anblick einer Messerklinge zuraunt, wie scharf und gefährlich so ein Ding ist. Wie leise sie trotz der Wichtigkeit ihrer Botschaften stets ist, nicht wahr?

Umso unglaublicher, dass ich damals tatsächlich auf sie hörte und mich wieder abwandte. Zumindest bis zu dem Moment, in dem die Kleine so blitzartig den Kopf in meine Richtung drehte, dass ich in der eigenen Bewegung regelgerecht erstarrte. Obwohl sie das mit Abstand süßeste und schönste Kind war, das ich jemals gesehen hatte, lief mir in dem Moment ein eisiger Schauer den Rücken entlang. Der Grund war aber nicht etwa der merkwürdig starre Blick den sie mir zuwarf, sondern vielmehr das Lächeln auf ihren Lippen. Abgesehen davon, dass es so künstlich wie das einer Puppe war, wirkte es an den Mundwinkeln auch eigenartig verzerrt, so als würden unsichtbare Finger die Kleine dazu nötigen gegen ihren Willen zu lächeln. Noch während wir einander anstarrten, sah ich, wie sie offenbar unter großer Mühe versuchte, durch dieses wie festgetackerte Lächeln zu sprechen. Es war dem bereits herannahenden Zug zu verschulden, dass ich zuerst nur ein Zischen anstelle von Worten hörte. Dann aber hörte ich die Kleine ganz deutlich den Satz: „Tu es nicht!" hervorpressen. Drei kurze Worte, in Folge derer sie sich umdrehte, um vor den einfahrenden Zug zu springen. Ich dachte in dem Moment nicht nach. Weder über die Eigenartigkeit der Situation, noch über die seltsame Warnung. Ich reagierte einfach nur und irgendwie schaffte ich es sie noch rechtzeitig am Arm zu packen und von der Stegkante zurückzureißen. Wie merkwürdig sich ihr Körper anfühlte, als wir zusammen auf den Bahnsteig zurückfielen. So unnatürlich leicht... irgendwie unwirklich. Wie eine nur oberflächlich ausgearbeitete Puppe mit Pappmachefüllung. In dem Moment habe ich ihn übrigens das erste Mal gespürt.

Den Hauch.

Diesen kühlen Luftzug ohne Konsistenz, der über mich hinwegglitt wie ein feuchtkaltes Seidentuch und mir eine Gänsehaut am ganzen Leib bescherte. Naiv wie ich war, schob ich das eigenartige Schaudern allerdings auf das Adrenalin in meinen Adern und kümmerte mich nicht weiter darum. Stattdessen versuchte ich das merkwürdig steif in meinen Arm liegende Mädchen von der Kante fortzuziehen. „Rufen sie die Rettung!!", herrschte ich die fast schon grotesk teilnahmslosen Leute um mich herum dabei an. „Sie hat womöglich einen Schock!"

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