Fortgeschritten

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Fernweh ist eine Sucht. Eine Krankheit. Ein rücksichtsloses und im Grunde unheilbares Fieber, das es einem aber schier unmöglich macht, mit seinem Leben zufrieden zu sein. Die Erreger sind überall. Dokumentationen, die fremde Städte, Landschaften und Sehenswürdigkeiten zeigen, und Filme und Serien, die sie mit faszinierenden Abenteuern füllen. Exotische Düfte und Klänge, die verlockende Bilder in unsere hilflosen Gehirne injizieren, wie unsichtbare, aber zutiefst aggressive Skorpione. Reiseberichte von anderen Erkrankten, die mit jedem ihrer wohlgesetzten Worte das Virus weiterverbreiten, und Reisebüros, die mit dem Leid der Infizierten gnadenlos Profite machen, indem sie ihnen unwiderstehliche Angebote für den nächsten Schuss, den nächsten Fieberschub, unterbreiten.

Ihr mögt meine Ansichten für übertrieben halten. Für das Gequatsche eines verbitterten Zynikers. Was ist schon verkehrt daran, neue Länder kennenzulernen, seinen Horizont zu erweitern und seine kleine, enge Alltagswelt von Zeit zu Zeit hinter sich zu lassen?

Nun, rein gar nichts. Genauso wenig, wie es verderblich ist, gelegentlich ein Glas Wein zu trinken oder sich eine Tafel Schokolade zu gönnen. Wie so oft macht die Dosis das Gift.

In kleinen Dosen ist Fernweh unproblematisch und vielleicht sogar bereichernd für unser Leben. Aber es gibt Menschen, denen ein Gläschen nicht reicht. Die nicht erkennen können oder wollen, wo ihre Grenzen liegen.

Ich bin so ein Mensch, und ein kleiner Pauschalurlaub von Zeit zu Zeit stellt mich schon lange nicht mehr zufrieden.

Eigentlich stamme ich aus Deutschland. Genauer gesagt aus einer miefigen, ländlichen Gegend dieses Landes. Der Wunsch, mehr von der Welt zu sehen, begleitete mich schon seit meiner Kindheit. Leider haben meine Eltern weder das Geld noch die Zeit für großartige Urlaubsreisen gehabt. Und ich freute mich umso mehr über jede der seltenen Gelegenheiten, zu denen meine Eltern mit mir wenigstens in eine der größeren Städte fuhren, auch wenn das oft genug zu Problemen führte.

Denn nicht selten stahl ich mich bei der erstbesten Gelegenheit davon, um jede einzelne Gasse, jeden Hinterhof und jede Seitenstraße zu erforschen. Oft mussten meine Eltern mich stundenlang suchen und gelegentlich sogar die Polizei einschalten. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass mir das eine Menge Ärger eingebracht hat.

Alles in allem hasste ich meine Kindheit, und da mir die Möglichkeit von realen Reisen verwehrt blieb, nutzte ich jede Chance, wenigstens geistig auf Reisen zu gehen.

Ich konsumierte alles, was ich in Büchern, im Fernsehen oder im Internet über fremde Länder fand. Ich dachte auch öfter darüber nach, online Kontakte zu Menschen aus anderen Ländern zu knüpfen, sah aber letzten Endes davon ab. Es hätte das Mysterium zerstört. Wenn ich eins nicht wollte, dann war es zu erfahren, dass die Menschen in diesen Ländern letztlich auch nicht anders waren als ich. Ich wollte keine Völkerverständigung, keine Überwindung von Unterschieden.

Ich wollte das Fremde, das Unbegreifliche, das Seltsame. Ich wollte Orte besuchen, an denen ich mir wunderbar verloren vorkam. Deshalb sehnte ich mich mit der Zeit auch nicht mehr danach, internationale Großstädte zu besuchen, in denen es ohnehin überall die gleichen Clubs, Burger-Buden und Szene-Treffs gab. Ich suchte vielmehr nach lokalen Eigenarten, bizarren Bräuchen, kuriosen Überlieferungen und dergleichen und verlor mich mehr und mehr in derlei Fantasien und Tagträumen.

Wahrscheinlich wäre es unter normalen Umständen auch bei meinen Träumereien geblieben. Selbst unsere Klassenfahrten führten uns nicht über die Landesgrenzen hinaus, und auch wenn ich die Schule einigermaßen ordentlich abschloss (was vor allem an meiner Begeisterung für Geografie und Fremdsprachen lag), so kam ich bei meinen Plänen, einen Beruf zu ergreifen, der meinem Fernweh entgegenkam oder der mir zumindest genügend Geld für weite Reisen einbrachte, kaum voran. Bei allem, was nicht mit Sprachen oder fremden Ländern zu tun hatte, fehlten mir schlichtweg die Konzentration und die Motivation, um wirklich gut oder auch nur akzeptabel darin zu sein.

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