Yh'sathegoth

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Nicht möglich, formen Gordons immer noch triefende Finger, und ich kann den Ausdruck der Atemlosigkeit in seinen Augen sehen, trotz der Taucherbrille, trotz der spärlichen Lichtverhältnisse in der Grotte. Die von Salz und Zeit zerfressenden Statuen der Sphinxen, welche sich im Schein seiner Taschenlampe auf der Wasseroberfläche spiegeln, scheinen schon sehr lange hier zu stehen. Ich nicke ihm zu. Er hat recht.

Ich weiß, dass sie hier nicht stehen sollten. Sie sollten nicht sein. Abgesehen davon, dass jede einzelne von ihnen mehr als dreißig Meter bis zur Höhlendecke ragt und aus einem Gestein bestehen, was ich in all meinen Jahren als Tiefseetaucher noch nie gesehen habe. Sie sollten nicht an diesem Ort sein. Die Sphinx ist ein Mythenwesen aus dem mediterranen Raum, aus Griechenland, Babylon und Ägypten, aber nicht aus Amerika. Sie sollten nicht hier sein, in einer mindestens 200 Meter tiefen, luftgefüllten Grotte von diesem riesigen Unterwasserhöhlensystems, 90 Kilometer vor der Küste Yucatáns. Langsam wird mir klar, dass das vielleicht die größte archäologische Entdeckung seit den Schriftrollen vom toten Meer sein könnte. Wenn diese Ruinen wirklich echt sein sollten, was würden sie bedeuten? Eine Expansion der Griechen über den Atlantik, Jahrhunderte vor den Wikingern und Spaniern? Dafür gibt es keine Indizien. Eine neue Hochkultur vielleicht, die es irgendwie geschafft hat, an diesem unwirklichen Ort eine Halle zu errichten. Oder war diese Stätte möglicherweise vor Urzeiten einmal an der Oberfläche, ehe sie durch irgendeine Naturgewalt in den Tiefen des Ozeans verschwand? Ehe ich es verhindern kann, wechseln Gordon und ich noch einen Blick, und ich beginne vor Aufregung zu zittern. Wenn es eine Geste für dieses Wort in Gebärdensprache gibt, kenne ich sie nicht, aber wir beide scheinen dasselbe zu denken. Atlantis. Wir könnten Atlantis gefunden haben.

Mit wackeligen Schritten und Schwimmflossen an den Füßen bahnen wir uns einen Weg durch das hüfthohe Wasser und das Plätschern wird in der endlosen Weite der Höhle zurückgeworfen. Keiner von uns wagt es, zu reden; und das liegt nicht nur an den Sauerstoffmasken, die wir immer noch tragen, um möglichen Giftgasen vorzubeugen. Was gibt es, was wir sagen könnten? Hey, sieht so aus, als würden wir doch noch berühmt werden? Vielleicht ist Schweigen hier angebracht.

Der Boden, auf den wir treten, ist eben, aller Wahrscheinlichkeit laufen wir auf dem selben Stein, aus welchem auch die Skulpturen errichtet sind. Eine solche Luftblase ist selten genug, aber eine, in der man aufrecht gehen kann? Ich frage mich, weshalb hier, an einem Ort wie diesem, ein Mahnmal erbaut werden sollte. War das hier einmal ein Tempel? Ein Grab? Etwas anderes? Und was haben diese riesenhaften Wächter zu bedeuten? Nachdenklich trete ich an eine der Sphinxen heran. Mit ausgefahrenen Krallen kauern sie auf den gigantischen Sockeln, als wären sie bereit, jede Sekunde einen Angriff zu starten. Etwas Groteskes liegt in diesen Wesen, das fast so etwas wie Ekel in mir erweckt. Zwei große, hoch geschwungene Flügel, die teilweise bis zu den niedrigen Stellen der Decke reichen, und jeweils vier pralle, nackte Brüste pro Sphinx. Zwar bin ich kein gelehrter Archäologe, aber trotzdem kann ich erkennen, dass so etwas nicht alltäglich ist. Gordon zeigt auf seine Nase, und ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dann aber blicke ich noch oben, zu den steinernen Frauengesichtern, die in der Höhe über uns schweben.

Sie sind, für ihr vermutlich immenses Alter, überraschend gut erhalten. Proportional viel zu große Augen, die weder die Andeutungen von Pupillen, noch von einer Iris besitzen. Sie blicken gleichzeitig teilnahmslos und lauernd auf das trübe Salzwasser, wie überdimensionale Katzen, die nach nicht minder großen Fischen Ausschau halten. Die Lippen sind voll und in einer Weise gezogen, die sich weder als Lächeln noch als sonst eine menschliche Emotion deuten lässt. Erst jetzt fällt mir auf, wie ähnlich jede einzelne der anderen ist, als wären sie von ein und demselben Fließband gekommen. Keiner fehlt eine Gliedmaße, keine ist mit Algen überwachsen, keine sieht aus, wie Ruinen in Wassernähe aussehen sollten. Die Nasen, auf die mich Gordon aufmerksam machen wollte, sind klein, schmal und eigentlich keine richtigen Nasen, sondern viel mehr zwei Schlitze auf einer Erhöhung über den Mündern. Nein, sie sollten wirklich nicht hier sein. Und wir auch nicht.

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