Jadewein

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Kleine grüne Blätter und Ranken, die sich wie Schlangen anmutig an jenem hölzernen Stock empor schlängelten, der in die weiche Erde gesteckt worden war, aber letzten Endes waren es die im hellen Türkis leuchtenden, krallenförmigen und gen Himmel wachsenden Blüten, die dem Jadewein sein charakteristisches Aussehen gaben. Laut eigenen Angaben hatte Dr. Phoenix diese Pflanze bei einem speziellen Züchter auf seiner Asienreise erstanden. Er war nun bereits seit über sieben Jahren mein Psychologe und obwohl mir zu Anfang gesagt wurde, dass seine Behandlungsmethoden höchst unorthodox seien, so unterschieden sich die Sitzungen bei ihm kaum von denen der anderen Ärzte, die ich zuvor aufgesucht hatte, mit der Ausnahme, dass Dr. Phoenix immer freundlich und verständnisvoll mir gegenüber war, während die anderen seiner ach so ehrenwerten Kollegen mich schon von vornherein so ansahen als wäre ich verrückt.

,,Ein kleines Geschenk für sie," sagte er als er mir mit einem Lächeln im Gesicht den kleinen Topf überreichte.

Ich bekam selten irgendetwas geschenkt, weshalb ich mir vor lauter Dankbarkeit ein paar Tränen verdrücken musste. Er konnte sich noch immer an das erinnern, was ich ihm vor einigen Jahren anvertraut hatte. Meine Depressionen begannen als meine Mutter starb; ein gewaltiger Schock für mich, denn außer ihr hatte ich niemanden; nun war ich alleine, eine Halbwaisin (meinen Vater hatte ich nie kennengelernt) - und zudem war ich diejenige, die das Auto gegen den Baum gefahren und Momma somit getötet hatte. Seit jeher wünschte ich mir ein Zeichen; ein Zeichen dafür, dass mir vergeben sei. Dieses Zeichen sollte eine kleine Pflanze sein, die ich mit Momma einst im botanischen Garten bewundern durfte - der Jadewein. Eine philippinische Tropenpflanze, deren Blüten in einem, für die Pflanzenwelt höchst ungewöhnlichen, Türkis erstrahlten. Nur Dr. Phoenix wusste von diesem Wunsch, den ich seit jeher hatte und von daher war dieses Geschenk, was er mir machte gewiss nicht klein, sondern heilender als jede bisherige Sitzung, bei der ich war.

Er gab mir noch die Antidepressiva, die ich jeden Monat von ihm erhielt und damit war die heutige Sitzung beendet. Laut seiner Aussage könnten wir uns erst wieder im nächsten Monat treffen, aber das war okay für mich, denn ich fühlte mich so gut wie selten zuvor in meinem Leben. Die Pflanze erhielt einen Ehrenplatz auf meiner Fensterbank, direkt neben meinem Bett. Der Jadewein war jedoch mehr als ein Zeichen der Vergebung, denn es fühlte sich zum ersten Mal wieder so an als wäre ich nicht mehr alleine. Zum ersten Mal seit dem Unfall konnte ich friedlich schlafen. Das war der Moment als ich es zum ersten Mal wahrnahm; es war kurz bevor ich einschlief, als ich eine mir vertraute Stimme hörte... warm, herzlich und liebevoll.

,,Annika."

Als ich am nächsten Morgen von den wärmenden Sonnenstrahlen, die durch mein Fenster fielen, geweckt wurde und erst einmal meine Pflanze goss, spürte ich diese seltsam innige Verbindung zwischen mir und dem bläulich schimmernden Jadewein. Es mag lächerlich klingen, doch das was da zwischen mir und der Pflanze entstand war eine Liebe wie sie zwischen einem Hund und seinem Besitzer herrschte. Ich liebte sie - ich war verliebt in eine Pflanze. Obwohl ich seit Jahren in psychiatrischer Behandlung war, war es das erste Mal, dass ich mich selber für verrückt hielt - und es war ein wunderschönes Gefühl. Der Tag verlief vollkommen frei von irgendwelche Konsequenzen. Mein Morgen begann mit einem kräftigen Frühstück und das obwohl ich mich morgens immer derartig entkräftet fühlte, dass ich keinen Bissen herunter brachte. Auch beim Mittagessen verspürte ich einen unnatürlich starken Appetit und bei meinem täglichen Spaziergang durch die, mit Menschen geradezu überflutete, Innenstadt hatte ich erstmals nicht das Gefühl, dass die Leute mich anstarrten.

Seit Mommas Tod sah ich nämlich überall vorwurfsvolle und verurteilende Blicke, völlig egal in welches Gesicht ich auch hinein sah. Natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass sie mich nicht wirklich anstarrten, aber die Schuld, die ich in mir trug verursachte eine stetig wachsende Paranoia, die dafür sorgte, dass die Vorwürfe, die ich mir im Grunde nur selber machte, sich von da an in jeder Menschenseele widerspiegelte, die mir in die Augen sah. Diesmal nicht; dieses Mal waren die Blicke verschwunden und ich sah stattdessen freundliche und lächelnde Gesichter. Die schweren Schuldgefühle schlummerten noch immer in meinem Innern, doch erstmals blieben sie in der hintersten Ecke meines Bewusstseins eingesperrt ohne mich zu quälen oder mir Schmerzen zuzufügen. Als ich am Abend wieder zuhause war, im Bett lag und ein wenig Musik im Hintergrund laufen ließ, fiel mein Blick hinüber zu der herrlich blühenden Pflanze, die vom weißen Licht des Vollmondes beschienen wurde, und mir wurde klar, dass es ihr zu verdanken war.

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