Kapitel 15

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Ich schaute Tj an, er schaute mich an, und wir wussten in dem ersten Moment nicht, was wir tun sollten. Was wir denken sollten. Bis ich auf eine Idee kam. Eine gute Idee, die ihn anfangs überforderte. Und auch mich überforderte, denn ich wusste nicht wohin mit meinen Gedanken. Und trotzdem wollte ich mich mutig fühlen. Ich wollte mich nicht nutzlos fühlen. Oder ausgeliefert.

"Komm mit mir mit.", flüsterte ich zu ihm, schlich leise an den Pferden vorbei bis hin zu den vielen Strohballen, dem Heuhaufen und einer schrägen Rampe, die zu dem Heu- und Strohlager oberhalb der Pferdeställe führte.

Dort lagerte meine Familie immer alles. Als kleines Kind hatte ich dort oft verstecken gespielt und in Sommernächten geschlafen, wenn ich nicht in meinem Zimmer schlafen wollte. Ich hatte mich dort oben immer daheim und wohl gefühlt.

Nun wieder nach dort oben zu gehen, am Abend, und all diese Erinnerung zurück zu bekommen...es weckte in mir gemischte Gefühle. Ich fühlte mich einerseits benommen, andrerseits durchpumpte mich Adrenalin.

Ich warf mich als erstes ins Heu, Tj danach. Ich kauerte mich zwischen dem Heu klein, schaute nach unten, wo die beiden Polizisten mit ihren Lampen soeben in die Scheune gelaufen kamen. Tj neben mir lag nahe, ich konnte seine Wärme spüren. Mein Blick lag nur auf den beiden Männern dort unten. Und wie sie jede kleinste Ecke nach mir durchsuchten.
Das schöne an der Scheune war immer schon gewesen, dass an der anderen Seite, da wo sich die Kiste befand, ein langes Seil von einem Balken herab hing, an dem ich früher klettern geübt hatte. Der Balken war mittlerweile sehr wahrscheinlich morsch, doch darüber dachte ich wenig nach.

Ich dachte nur darüber nach, wann ich von irgendwem entdeckt und zurück nach Hause geschleppt wurde. Ob ich starb, bevor all die Taten mit den Elstern enden würden.

"Hast du schon was?", fragte der eine den anderen. Der verneinte, fragte: "Und du?", und dann ging es genau gleich los. Nein.

Mein Vater hatte also die Polizei verständigt, mich zu suchen. Und meine Mutter hatte ihm dann wahrscheinlich von mir erzählt. Von meinem Aufzug und mit wem ich gesehen wurde.

Ich spürte Tj, wie er mit seiner Schulter gegen meine stupste und dann zu den Männern unten nickte, die hinten am Heu herum streunten und in alle Ecken leuchteten. Sie leuchteten in alle Ecken, um mich zu finden, dabei versteckte ich mich in derselben Scheune, oben bei dem Heu und Stroh. Liegend, neben Tj, und schaute zu ihnen herunter. Sie hatten absolut keine Ahnung. Ich genoss ihre Ahnungslosigkeit schadenfroh.

Dumme Männer...

Dann verzog sich meine Mimik aus dem Nichts, denn die beiden Männer schauten auf einmal nach oben. Ich duckte meinen Kopf. Sie konnten mich sehr wahrscheinlich nicht gesehen haben, und doch sagte der eine, er würde die Rampe hinauf gehen und oben nachschauen. Und ich hatte nur noch das Seil im Kopf, mein Fluchtweg.

Ich war nun nicht nur eine Mörderin, sondern auch eine Flüchtige. Die Polizei suchte nach mir. Nach Evangeline Knechter.
Nicht nach Lina...
Nach Evangeline.

Vielleicht wollte Walter genau das bezwecken. Dass ich davon lief und man mich irgendwann für tot erklären würde. Dass ich meine andere Identität annehmen musste, ob ich nun Lina sein wollte oder nicht. Vielleicht wollte er genau das bezwecken, nichts anderes. Es machte mir Angst. Walter machte mir Angst.
Was die Polizisten tun würden...das war mir nicht mehr allzu wichtig.
Sie wurden zu meinen Feinden, nicht zu meinen Freunden.

"Wir müssen gehen.", flüsterte Tj in mein Ohr und ich nickte. Ich kroch rüber zu dem Seil an dem Balken, das nach unten führte.

Der Balken knarrte, ein Zeichen, dass er morsch war, doch das hielt mich nicht auf. Es hätte mich nicht aufhalten sollen. Und trotzdem wollte ich was anderes.

1896Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt