Kapitel 51

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Seine Hosentaschen sind in diesem Moment der einzig sichere Ort für seine Hände.
"Warum stellst du mich ihr nicht einach vor? Denkst du, sie würde sich dann besser fühlen?"
"Ähm." Astrid streicht sich das Haar auf die andere Seite ihres Gesichts. Ihre Miene schwankt zwischen Schock und Erwartung.
Und sie hat jedes Recht, etwas zu erwarten - immerhin malt auch er sich schon seit über zwei Wochen aus, wie es wohl wäre, sie zu küssen.
Sie nestelt am Türgriff.
"Ja, vielleicht. Sie wird mich nirgends hingehen lassen - erst recht nicht mit dir -, solange sie dich nicht kennt."
"Sollte ich Angst haben ?"
Sie seuzt. "Normalerweise würde ich Nein sagen. Aber nach diesem Morgen...." Sie zuckt die Achseln.
"Was hälst du davon, wenn ich dir zu deinem Haus folge, damit du den Wagen abstellen kannst? Dann kann sie mich ins Kreuzverhör nehmen. Und wenn sie sieht, wie charmant ich bin, wird sie dir erlauben, mit mir zum Strand zu fahren."
Sie verdreht die Augen. "Sei bloß nicht zu charmant. Wenn du zu glatt rüberkommst, wird sie niemals glauben, dass.... Übertreib's einfach nicht, okay?"
"Die Sache wird kompliziert", sagt er und schließt ihren Wage auf.
"Das Ganze war deine Idee, außerdem bist du Schuld daran. Noch kannst du einen Rückzieher machen."
Er lacht leise und hält ihr die Wagentür auf. "Häng mich bloß nicht ab."

Astrid wirft ihren Rucksack auf die Theke und reckt den Kopf ins Treppenhaus. "Mom, könntest du mal kurz runterkommen? Wir haben Besuch."
"Sicher, Schätzchen. Bin gleih da. Sie haben gerade angerufen, dass ich kommen soll. Hab's eilig", ertönt die Antwort von oben.
Er steckt die Hände in seine Taschen.
Warun bin ich nervös? Es geht nur darum, einem weiteren Menschen etwas vorzumachen.
Aber alles hängt davon ab, dass dieser Mensch ihn mag, ihn akzeptiert. Asrids Mutter für sich zu gewinnen, ist genauso wichtig, wie Astrid zu gewinnen.
Ihre Mutter könnte seine Aufgabe erschweren.
Wenn sie ihn ablehnt, könnte ihn das Zeit kosten. Plötzlih machen sich Selbstzweifel breit. Wenn er in den beiden Wochen vor Schulbeginn nicht mit Punzi geübt hätte, würde er das hier nicht einmal versuchen.
Aber Rapunzel war gründlich.
Sie ist jeden einzelnen Punkt mit ihm durchgegangen: was ihn in der Schule erwartet und wie er sich verhalten muss, was bestimmte Phrasen bedeutet, was er anziehen soll und wann er es anziehen soll.
Sie haben seine Fahrkünste aufpoliert. Punzi hat sogar vorhergesehen, dass er Astrids Eltern kennenlernen würde - auch wenn niemals von einem Verhör die Rede war.
Jetzt wünscht er, er hätte sie auf dem Weg hierher angerufen.
Als er wieder einmal darüber nachdenkt, Astrid zu kidnappen, sieht er sich genauer um.
Von der Küche aus kann er das ganze Erdgeschoss einsehen.
Das Einzige, was bei der Einrichtung zusammepasst, ist, dass nichts zusammenpasst - Haushaltsgeräte, Möbel, Farben.
Alle Räume gehen ohne Türen ineinander über, als wäre man überall wilkommen. Jenseits des Wohnzimmers spähen von Grasbüscheln durchsetzte Sanddünnen durch das riesige Fenster herein, als würden sie lauschen.
Das alles ist ganz nach seinem Geschmack - im Vergleich dazu wirkt das Haus, das Rapunzel gekauft hat, kalt, distanziert und unpersönlich.
Aber was ihn regelrecht eifersüchtig macht, sind die Bilder, die jede Wand des Raumes bedecken.
Bilder von Astrid. Ihr ganzes Leben hängt an diesen Wänden - und wenn er keinen Weg findet, ihre Mutter von seinen guten Absichten zu überzeugen, wird er wahrscheinlich keine Chance bekommen sie anzusehen.
Er hört gedämpfte Schritte auf der Treppe. Als Astrids Mutter auftaucht, befestigt sie gerade etwas an ihrer Bluse. Als sie Hicks sieht, bleibt sie stehen "Oh."
Hicks weiß, dass sich der Schock auf ihrem Gesicht in seinem eigenen Ausdruck spiegelt.
Ist sie eine Syrena?
Ihre äußere Erscheinung - dunkles Haar, dunkle Haut und der hagere, muskulöse Körperbau - schreit Ja. Bis auf diese blauen Augen. Blaue Augen, die ihn mustern, als ob sie wüssten, wer er ist und warum er hier ist.
Dann, mit dem nächsten Wimpernschlag, verwandeln sich diese blauen Augen einer Wächterin in die einer Gastgeberin.
Astrid durchauert anmutig den Raum. "Mom, das ist mein Besuch. Das ist Hicks Haddock."
Er lächelt und streckt die Hand aus, um sie zu begrüßen.
Genauso hat Punzi es ihm beigebracht.
"Hi, Mrs Hofferson. Freut mich, Sie kennenzulernen."
Sie kommt ihm auf halbem Weg entgegen und nimmt seine Hand.
Ihr Händedruck ist selbstbewusst, aber nicht zu dominant und löst nicht das kleinste Kribbeln aus.
Nicht, dass er wirklich eine elektrisierende Spannung erwartert hätte, aber sie ist immerhin Astrids Mutter. Aus der Nähe bemerkt er das Grau, das sich in dünnen Strähnen durch ihr Haar zieht.
Spuren des Alters; ein menschlicher Prozess.
Ihr Tonfall ist ausgesprochen höflich, aber ihre Augen - blau, keine Kontaktlinsen, soweit er das erkennen kann - sind geweitet und ihr Mund schließt sich niemals ganz.
"Oh. Hicks." Sie dreht sich zu Astrid um.
"Das ist Hicks ?"
Er erkennt, dass sie Astrid mit dieser Frage noch eine andere Frage stellt - eine, die nichts damit zu tun hat, dass er ein Syrena ist.
Er schiebt die Hände in die Taschen und fängt an, den Teppich anstatt ihres Gesichts zu mustern, wobei er jeden einzelnen Faden einer ausführlichen Betrachtung unterzieht. Er kann ihr nicht in die Augen sehen, weil er ahnt, was sie sich in diesem Moment ausmalt.
Idiot! Sie macht sich keine Sorgen darüber, warum Hicks, der Syrena, in ihrem Haus ist. Sie macht sich Sorgen, warum Hicks, der menschliche Junge, hier ist.
Astrid räuspert sich. "Yep. Das ist er."
"Ich verstehe. Würdest du uns für einen Moment entschuldigen, Hicks? Astrid, kann ich bitte unter vier Augen mit dir sprechen? Oben?"
Sie wartet die Antwort gar nicht erst ab.
Bevor Astrid ihr nach oben folgt, wirft sie ihm ein Ich-hab's-doch-gesagt-Grinsen zu. Das er mit einem Nicken quittiert.
Da er sich nicht gerade dazu eingeladen fühlt, durchs Haus zu streifen und alle Bilder anzusehen, trottet er zum Fenster und starrt durch das Dünengras hindurch. Von oben dringen keine Geräusche herunter - weder Geschrei noch sonst irgendetwas -, aber er ist sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist.
Menschen lösen ihre Probleme anders als Syrena und selbst innerhalb ihrer Art völlig unterschiedlich.
Sicher, die Königsfamilie neigt zu Jähzorn. Aber die meisten Syrena holen sich Hilfe von einer dritten Partei.
Sie suchen sich einen Vermittler, der für Fairness sorgt.
Menschen tun das nie.
Sie lösen ihre Konflikte lieber mit Geschrei, Streit und manchmal sogar Mord - Rapunzel ist ein perfektes Beispiek dafür.
Als er sie gefunden hat, war sie an einen Betonblock gefesselt, den jemand ins Meer geworfen hatte.
Er war damals erst dreizehn Jahre alt, aber er erinnert sich noch genau daran, wie schnell sie sank, zappelnd wid ein lebendiger Köder und wie sie trotz des Klebebands über ihrem Mund versuchte zu schreien.
Und die Knoten. Er hat sich die Finger blutig gerissen, um diese Knoten zu lösen.
Als er sie ans Ufer brachte, hat sie ihn angefleht, sie nicht zu verlassen. Er wollte nicht bleiben, aber sie hat so heftig gezittert, dass er dachte, sie würde ohnehin sterben.
Grom hatte ihn gelehrt, wie man ein Feuer macht - etwas, das die meisten Syrena erst lernen, wenn die Zeit gekommen ist, sich auf den Inseln zu paaren.
Er hat ein paar Fische gefangen und sie gegrillt. Eine vorsichtige Neugier ließ ihn verweilen, während sie aß.
Jeder andere erwachsene Mensch wäre volkommen aus dem Häuschen gewesen, wenn er seine Flosse gesehen hätte. Aber Punzi nicht.
Tatsächlich hat sie sie so gut ignoriert, dass er dachte, sie wäre ihr vielleicht gar nicht aufgefallen.
Bis sie ihm erzählt hat, dass sie die letzten dreißig Jahre damit verbracht hat, die Geheimnissr anderer Leute zu hüten. Warum also nicht auch seins?
Er ist die ganze Nacht bei ihr geblieben, während sie immer wieder einnickte.
Am nächsten Mirgen wollte er seine Wege gehen, doch das ließ sie nicht zu. Sie hat darauf bestanden, sich für seine Hilfe zu revanchieren. Widerstrebend hat er zugestimmt.
Er hat sie gebeten, ihm im Gegenzug von den Menschen zu erzählen und sich jede Nacht mit ihr am Strand getroffen, an einem Ort, den sie Miami nannte.
Sie hat alle Fragen beantwortet, die ihm einfielen und auch alle, auf die er gar nicht gekommen wäre.
Als er das Gefühl hatte, dass sie ihre Schuld beglichen hatte, bestand er darauf, nun wieder getrennte Wege zu gehen.
Das war der Moment, in dem sie anbot, seine Assistentin zu werden. Sie hat gesagt, dass er ihre speziellen Fähigkeiten brauchen würde, um wirklich genug über die Menschen zu lernen, um seine Art vor ihnen zu beschützen. Als er sie fragte, welche Fähigkeiten sie meine, hat sie einfach entgegnet: "Ich kann so ziemlich alles tun. Das ist der Grund, warum sie versucht haben, mich zu töten, Äffchen. Manche Menschen mögen es nicht, wenn man zu viel weiß."
Inzwischen hat sie unzählige Male bewiesen, was genau sie alles kann. Ihr gemeinsamer Insiderwitz ist, dass er der reichste Nichtmensch des Planeten ist.
Schritte im Treppenhaus holen ihn zurück in die Gegenwart. Er dreht sich um, als Astrids Mutter gerade den Essbreiech betritt. Astrid folgt ihr auf dem Fuß.
Mrs Hofferson gleitet auf ihn zu und legt den Arm um ihn. Das Lächeln aufnihrem Gesicht ist aufrichtig während Astrids ganz schmal wird. Und sie errötet.
"Hicks, ich freue mich sehr, dich kennenzulernen", sagt sie und führt ihn in die Küche. "Astrid hat mir erzählt, dass du sie heute zum Strand hinter deinem Haus mitnehmen möchtest. Wollt ihr schwimmen ?"
"Ja, Ma'am." Dass sie wie ausgetauscht ist, weckt seinen Argwohn.
Sie lächelt. "Na, dann viel Glück damit, sie ins Wasser zu bekommen. Leider bin ich ein wenig in Eile und kann euch nicht begleiten. Deshalb muss ich nur deinen Führerschein sehen. Astrid läuft inzwischen nach draußen und notiert dein Nummernschild."
Astrid verdreht die Augen, wühlt in einer Schublade und zieht Stift und Papier hervor. Als sie das Haus verlässt, schlägt sie die Tür mit solcher Wucht hinter sich zu, dass das Essgeschirr an der Wand zittert.
Hicks nickt, holt seine Brieftasche heraus und reicht ihr den gefälschten Führerschein.
Mrs Hofferson studiert ihn und stöbert in ihrer Handtasche, bis sie einen Stift zutage fördert.
Damit schreibt sie sich etwas auf die Hand.
"Ich brauche die Führerscheinnummer nur für den Fall, dass wir jemals irgendwelche Probleme bekommen. Aber das werden wir nicht, nicht wahr, Hicks? Du wirst meine Tochter - meine einzige Tochter - immer pünktlich nach Hause bringen, habe ich rechty ?"
Er nickt, dann schluckt er. Sie hält ihm seinen Führerschein hin. Als er ihn nimmt, packt sie sein Handgelenk und zeiht ihn zu sich heran. Sie wirft einen schnellen Blick zur Garagentür hinüber, dann wieder zu ihm.
"Heraus damit, Hicks Haddock. Gehst du mit meiner Tochter oder nicht ?"
Na toll. Sie glaubt Astrid immer noch nicht. Wenn sie ihnen nicht glauben will, warum dann weiter versuchen, sie zu überzeugen? Wenn sie denkt, dass sie miteinander gehen, wäre es doch völlig normal, dass Astrid und er Zeit miteinander verbringen. Wenn er aber Zeit mit Astrid verbringen möchte und ihrer Mutter sagt, dass sie nicht miteinander gehen, wird sie nur misstrausisch werden.
Wahrscheinlich wird sie ihnen sogar nachspionieren - was ziemlich übel wäre.
Die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass sie sich mit Grom verbindet, ist also, mit ihr zu gehen. Die Dinge fangen an, immer besser zu laufen. "Ja", antwortet er.
"Wir gehen definitiv miteinander."
Sie kneift die Augen zusammen. "Und warum sagt sie dann etwas anderes ?"
Er zuckt die Achseln. "Vielleicht schämt sie sich für mich."
Zu seiner Überraschung kichert sie. "Dad bezweifle ich ernsthaft, Hicks Haddock." Ihr Humor ist kurzlebig. Sie krallt eine Hand in sein T-Shirt. "Schläfst du mit ihr ?"
Schlafen.... Hat Punzi nicht gesagt, dass miteinander schlafen und sich paaren das Gleiche ist ? Miteinander gehen und miteinander verinden ist ähnlich. Aber schlafen und paare ist genauso das Gleiche.
Er schüttelt den Kopf. "Nein, Ma'am"
Sie zieht eine Red-bloß-keinen-Stuss Augenbraue hoch.
"Warum nicht ? Stimmt etwas mit meiner Tochter nicht ?"
Das kommt ziemlich unerwartet. Er hat den Verdacht, dass diese Frau eine Lügr genauso aufspüren kann wie Fischbein Heidrun. Alles, wonach sie sucht, ist Aufrichtigkeit, aber die echte Wahrheit würde ihn nur ins Gefängnis bringen.
Ich bin verrückt nach Ihrer Tochter - ich spare sie nur für meinen Bruder auf.
Also würzt er seine Antwort mit der Offenheit, die sie anscheinend unbedingt hören will.
"Ihre Tochter ist umwerfend, Mrs Hofferson. Ich sagte, wir schlafen nicht miteinander. Ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht will."
Sie atmet scharf ein und lässt ihn los. Dann räuspert sie sich, streicht mit der Hand ihre zerknitterte Bluse glatt und tätschelt seine Brust. "Gute Antwort, Hicks. Gute Antwort."
Astrid reißt die Garagent7r auf und bleibt wie angewurzelt stehen. "Mom, was machst du da ?" Mrs Hofferson tritt beiseite und geht zur Theke.
"Hicks und ich haben nur ein wenig geplaudert. Warum hast du so lange gebraucht ?"
Hicks schätzt, dass ihre Fähigkeit, eine Lüge zu spüren, wahrscheinlich in direktem Zusammenhang mit ihrer Fähigkeit steht, eine zu erzählen. Astrid wirft ihm einen fragenden Blick zu, den er nur mit einem lässigen Achselzucken erwidert.
Ihre Mutter schbappt sich einen Schlüsselring von einem Haken neben dem Kühlschrank und schiebt ihre Tochter aus dem Weg, jedoch nicht ohne ihr das Blatt Papier aus der Hand zu reißen.
In der Tür dreht sie sich noch einmak um. "Oh und Hicks ?"
"Ja, Ma'am ?"
"Deine Mutter soll mich anrufen, damit ich ihre Nummer in mein Telefon einspeichern kann."
"Ja, Ma'am."
"Also dann, ihr Lieben, amüsiert euch gut. Ich werde erst ziemlich spät wieder zu Hause sein, Asrid. Aber du bist um neun wieder da, Schätzchen. Das wird sie doch nicht wahr, Hicks ?"
"Ja, Ma'am."
Weder Astrid noch Hicks machen einen Mucks, bis sie hören, wie der Wagen aus der Einfahrt fährt. Selbst dann warteb sie noch einige Sekunden. Astrid lehnt sich an den Kühlschrank. Hicks versteckt seine Hände in den Hosentaschen.
"Also, worüber habt ihr beiden geplaudert ?", fragt sie, als interessiere es sie gar nicht.
"Du zuerst."
Sie schüttelt den Kopf  "M-mh. Ich will nicht darüber reden."
Er nickt. "Gut. Ich auch nicht."
Für einige Sekunden ist alles andere im Raum so interessant, dass sie sich nicht ansehen müssen. Schließlich sagt Hicks: "Also, möchtest du dich vielleicht umziehen gehen...."
"Bombastische Idee. Bin gleich wieder da." Sie fängt fast an zu rennen, um zur Treppe zu kommen.

Blue Secrets / HiccstridWo Geschichten leben. Entdecke jetzt