Kapitel 65

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Zum Beispiel wie dick die Schulbücher sind. Rapunzel hat ihm im Laufe ihrer gemeinsamen Jahre Lesen und Schreiben beigebracht, aber was bitte soll er mit Mathematik oder Turnen anfangen? Menschliche Geografie ist völlig nutzlos für ihn.
Was kümmert es ihn, wo die Menschen ihre unsichtbaren Landgrenzen ziehen? Höchstens Biologie könnte interessant sein. Und wenn Astrid Geschichte mag, würde es nicht schaden, sich auch dieses Fach einmal anzusehen. Hicks will gar nicht abstreiten, dass es von Vorteil für ihn sein könnte, mehr über die Menschen zu lernen - aber nicht so, wie Astrid es sich erhofft.
Die Idee, ihnen seine Art zu offenbaren und Friedensbedingungen auszuhandeln, ist einfach lächerlich. Menschen können nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Art in Frieden leben. Und er hat gesehen, wie viel ihnen an den Lebewesen unterhalb des Meeresspiegels liegt - mit einem einzigen fahrlässigen Unfall haben sie ganze Gemeinschaften von Meeresbewohnern ausgelöscht. Oder einige Spezies unbarmherzig gejagt. Bis zu ihrer Ausrottung. Selbst in den Tagen von Triton und Poseidon, als Menschen und Syrena freundschaftlich nebeneinander existierten, brachten einige Menschen keinerlei Verständnis dafür auf, dass sie von den Meeren um sie herum abhängig waren. Das war der Grund, warum die beiden Generäle das Gesetz der Gaben erließen. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich ihre Vorraussicht als unbezahlbar erwiesen. Als die Menschen immer bessere Techniken entwickelten, um die Ozeane in ihren großen Schiffen zu überqueren und schließlich sogar mit ihren Todesmaschinen bis in ihre Tiefen vorzudringen.
Aber Astrid ist genauso naiv wie Rapunzel. Sie beharren beide auf einem einfachen Prinzip: Je mehr du über Menschen weißt, desto lieber wirst du sie mögen. Das ist einer der Gründe, warum Rapunzel ihn auch jetzt ermutigt, wieder zur Schule zu gehen. Selbst wenn sie ihn hinter dem anderen guten Grund versteckt - nämlich einige Menschen-Jungen davor zu bewahren, von ihm persönlich getötet zu werden. Bei dem bloßen Gedanken daran, dass Astrid ohne ihn durch die Flure gehen könnte, ballen sich seine Hände zu Fäusten.
"Du hast Recht", sagt er entschlossen. "Ich muss in der Schule bleiben." Er streift sein Hemd ab und wirft es über einen Stuhl. "Sag Astrid, dass ich auf sie warte."

Als meine Füße den Grund berühren, lässt Hicks mich los. Ich wate auf Zehenspitzen auf das Ufer zu und hüpfe mit den Wellen wie ein Kleinkind. Sobald ich den Strand erreiche, werfe ich mich in den Sand, gerade so weit, dass die Flut noch an meinen Füßen kitzelt. "Kommst du nicht raus ?", rufe ich Hicks zu.
"Du musst mir meine Shorts rüberwerfen", sagt er.
"Oh. Oh. Du bist nackt ?", quieke ich an der Grenze zur Delfinfrequenz. Natürlich. Hätte mir klar sein müssen, dass Flossen kein Fach für Handgepäck haben und die meisten Syrena sowieso keinen Grund hätten, eine Badehose zu verstauen. Was in Fischgestalt auch keine große Rolle spielt, aber Hicks in menschlicher Gestalt nackt zu sehen - nein, der bloße Gedanke daran -, würde meinen Plan, ihn auszunutzen, durchkreuzen. Es könnte mir das Genick brechen.
"Schätze, das bedeutet, dass du noch nicht ins Wasser sehen kannst", sagt er. Als ich den Kopf schüttele, fügt er hinzu: "Ich habe sie ausgezogen, bevor du heute Morgen hergekommen bist. Ich versuche, sie nicht zu ruinieren wenn es nicht sein muss."
Ich räuspere mich, rappele mich auf und stapfe durch den Sand, wo ich seine Badehosen einige Schritte entfernt finde. Ich werfe sie ihm zu und setzte mich wieder hin, für den Fall, dass ich plötzlich doch in die brackige Tiefe sehen kann. Dankenswerterweise bleibt er unter Wasser, als er zu den angeschwemmten Baumstämmen geht und sich anzieht. Während er ans Ufer watet, knotet er die Shorts fest und bespritzt mich im Wasser. Dann setzt er sich neben mich. "Warum kann ich mich nicht verwandeln, Hicks ?" Ich ziehe die Knie an die Brust. Er stützt sich auf die Ellbogen und starrt aufs Meer hinaus, als wüsste es die Antwort. Wir sind den ganzen Tag hier draußen gewesen und ich habe nicht einmal ein Jucken in meinen Beinen gespürt, geschweige denn dieses streckende Gefühl, das er mir versprochen hat. "Ich weiß nicht",sagt er. "Vielleicht bist du zu befangen. Vielleicht würde es einfach passieren, wenn du dich entspannen könntest."
"War das so bei dir ? Ich meine, ist es einfach zufällig passiert ?"
"Nein, ein Zufall ist es nie. Was ich meine, ist, wenn du aufhören würdest, es zu erwarten und stattdessen versuchst, einfach nur Spaß zu haben, dann wird es dir vielleicht wie von selbst einfallen, wie du dich verwandeln kannst."
"Aber ich habe Spaß", sage ich, ohne ihn anzusehen.
"Ich auch."
"Immerhin ist morgen Freitag. Wir haben das ganze Wochenende zum Üben. Außerdem können wir schon morgen nach der Schule damit anfangen - oh, da fällt mir ein, dass du wahrscheinlich gar nicht mehr zur Schule kommst", sage ich. "Du hast dein Ziel erreicht, richtig ?" Ich ignoriere den winzigen Stich in meinem Inneren.
"Eigentlich will ich noch eine Weile so weitermachen. Deine Mom wäre wahrscheinlich nicht allzu glücklich, wenn du mit jemanden gehen würdest, der die Schule hat sausen lassen." Ich lache.
"Ja, da hast du recht. Aber ich glaube, dass sie dich mag."
"Warum sagst du das ?", fragt er, legt den Kopf schräg und sieht mich an.
"Als ich sie angerufen habe, hat sie mich gebeten, dir einen guten Morgen zu wünschen. Und dann hat sie mir gesagt, du wärst ein Beschützertyp." Sie hat auch gesagt, dass er heißt ist, was auf einer Gruselmeter-Skala von eins bis zehn bei zehneinhakb steht.
"Das wird sich ändern, wenn ich durch meine ganzen Kurse rassele. Ich habe zu viel Unterricht verpasst, um eine gute Figur zu machen."
"Vielleicht könnten wir uns ja austauschen", sage ich und zucke bei dem Gedanken daran zusammen, wie leicht man das missverstehen kann.
"Du meinst, neben dem Austausch von Speichel ?"
Das gute alte Kribbeln in meinem Magen ist wieder da, aber ich sage: "Igitt! Hat Rapunzel dir das beigebracht ?" Er nickt und hört gar nicht mehr auf zu grinsen. "Ich habe tagelang gelacht."
"Wie auch immer. Du hilfst mir dabei, mich zu verwandeln und ich helfe dir bei deinen Schulaufgaben. Du weißt schon, als Tutor. Wir sind in allen Kursen zusammen und ich könnte die freiwilligen Tutor-Stunden wirklich für meine College-Bewerbung brauchen."
Sein Lächeln verschwindet, als hätte ich ihn geschlagen. "Hicks, stimmt etwas nicht ?"
Er entspannt seinen Kiefer ein wenig. "Nein."
"War ja bloß ein Vorschlag. Ich muss dir keine Nachhilfe geben. Ich meine, wir werden sowieso schon den ganzen Tag in der Schule zusammen sein und abends üben. Du wirst mich wahrscheinlich bald gründlich satt haben." Ich streute ein leises Lachen ein, als hätte ich das nur so dahingesagt, aber meine Innereien schlagen Purzelbäume.
"Unwahrscheinlich."
Unsere Blicke treffen sich.

Blue Secrets / HiccstridWo Geschichten leben. Entdecke jetzt