Kapitel 77

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Und ich auch nicht, nicht wirklich. Zumindest bin ich nicht mehr dieselbe Astrid, die mit Raff hierhergekommen ist. Die Astrid, die ihr wie ein weißer Schatten durch die Flure der Schule gefolgt ist. Die Astrid, die einige Schritte hinter ihr geblieben ist, während sie wie eine Biene von Freundeskreis zu Freundeskreis geflitzt ist. Ein zartes, leicht zu vergessendes Phantom.
Ich Frage mich, ob neben Raffs überlebensgroßer Persönlichkeit noch Platz für die verbesserte Astrid wäre. Eine Astrid, die ihre Mutter belogen hat, um mit einem seltsamen Fisch-Jungen in ein Flugzeug zu springen. Eine Astrid, die eher einen Streit anzetteln würde, als einen zu schlichten. Vielleicht ist verbessert nicht das richtige Wort für mein neues Ich. Vielleicht trifft verändert die Sache besser. Am ehesten wahrscheinlich sogar abgestumpft.
Die Luft ist so feucht, dass man fast darin ertrinken könnte. Jede Sekunde erwarte ich, dass sich der Regen mit den Tränen mischt, die meine Wangen hinunterrinnen. So viel zum Thema Abgestumpft.
Ich tauche unter.
Der Golf ist ganz und gar nicht so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Natürlich liegt das daran, dass mir beim letzten Mal das Salz in den Augen gebrannt hat. Außerdem hat sich das Wasser kühl und erfrischend angefühlt im Vergleich zur drückenden Florida-Hitze. Jetzt ist das Wasser so lauwarm wie der Hotelwhirlpool, der Atlantik und jede Pfütze von hier bis nach Jersey.
Das ist beinahe so frustrierend wie Hicks' Katz-und-Maus-Spiel. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Spiel ist. Seiner Miene nach zu urteilen, tobt hinter seiner Fassade ein regelrechter Krieg. Er wagt einen Vorstoß und zieht sich sofort wieder zurück. Vorstoß, Rückzug. Wie eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Und ich habe keine Ahnung, wo er es einordnet, mich zu küssen.
Wahrscheinlich unter Böse.
Wie armselig. Da sitze ich für die nächsten 24 Stunden in einem Hotelzimmer fest,völlig ohne Aufsicht, mit einem Typen, der alles tut, mich nicht zu küssen. Zauberhaft.
Ich befördere mein griesgrämiges Ich am abschüssigen Meeresboden entlang und mache mir einen Sport daraus zu zählen, wie viele Krabben ich so sehr verärgert kann, dass sie nach mir schnappen. Die meisten sind faire Sportsmänner und versuchen es. Selbst wenn sich tatsächlich eine in meinen Fingern verbeißt, wird es nicht mehr wehtun als eine Wäscheklammer. Aber meine Strategie funktioniert nur, bis sich Hicks und seine verführerischen Lippen in meine Gedanken zurückschleichen. Er ist wie der Club-Remix eines Songs, den ich schon im Original gehasst habe und der mir gleich beim ersten Hören nicht mehr aus dem Kopf geht. Einer, der immer wieder und wieder und wieder gespielt wird.
Ich frage mich, was Raff mir raten würde. Gott, ich vermisse sie. Im Gegensatz zu mir ist sie eine Expertin in Sachen Männer gewesen. Sie hat gewusst, wann sie betrügen. Sie hat gewusst, wann sie ihren Freunden Müll erzählen. Sie hat gewusst, wann sie ihre Nummer wollen, sogar wenn sie sie nur um einen Bleistift gebeten haben.
Sie hätte einen Blick auf Hicks geworfen und mir sagen können, warum er mich nicht küssen will, wie ich ihn dazu bringen kann und wo wir unseren Hochzeitsempfang abhalten sollen.
Zu irritiert, um meinen Weg fortzusetzen, drehe ich um. Der Geruch von Metall trifft mich wie eine Welle. Geruch? Ist das überhaupt möglich? Dann sehe ich eine Wolke von Blut. Zwei Körper im Kampf verkeilt. Eine Flosse. Zwei Flossen. Ich schreie. Er hört mich. Sie hören mich. Sie beenden ihren Kampf und die Reste eines toten Etwas wirbeln um sie herum wie Konfetti. Blutiges Konfetti.
Als ich mich wieder umdrehe, weiß ich schon, dass ich so gut wie tot bin. Die gute Nachricht ist, dass zwei Haie mich schneller töten werden als einer. Zwei Kieferpaare haben bessere Chancen, gleich am Anfang eine wichtige Arterie zu durchtrennen. Es sollte schnell gehen. Ein Teil von mir will aufgeben und es hinter sich bringen. Der andere Teil, der mächtigere, will, dass ich wie eine Wahnsinnige schwimme. Kämpfe und trete und schlage. Dass ist diese Jagd zu ihrer härtesten mache. Und dass sie an meinen dicken Syrena-Knochen ersticken werden.
Ich höre ihr zischendes Herannahen und verkrampfe mich. Einer von ihnen rammt mich, sodass Luftbläschen aus meiner Lunge aufsteigen. Ich schreie auf und kneife die Augen fest zusammen. Niemand will zusehen, wie er stirbt. Ein Maul umklammert meine Taille, stark und fest. Der, den es gehört, prescht so schnell los, dass mein Kopf nach hinten gerissen wird. Das wär's. Ich warte darauf, dass er seine Zähne in mein Fleisch schlägt. Aber es passiert nicht. Er schwimmt einfach weiter. Ich habe gehört, dass Alligatoren so etwas tun. Dass sie ihre Beute packen und irgendwohin bringen. Sich das Mahl für später aufsparen. Salzwasser ist wahrscheinlich das perfekte Konservierungsmittel, um meinen Kadaver frisch zu halten.
Ich zwinge mich, ein Auge zu öffnen. Und schnappe nach Luft. Kein Maul um meine Taille, so stark und fest.
Ein paar Arme. Arme, deren Umrisse ich mir bis ins Detail eingeprägt habe.
Hicks. Und er ist so mörderisch wütend, dass das Wasser um uns herum eigentlich kochen müsste. Vielleicht tut es das auch. Vielleicht bewegen wir uns einfach zu schnell, um es sehen zu können. Nach dem Ausdruck auf seinem Gesicht zu urteilen, denkt er daran, mich persönlich zu töten. Vielleicht war ich mit den Haien besser dran.
Hicks schwimmt lange. Er will mich nicht ansehen, will nicht mit mir reden. Und ich bin klug genug, ihn nicht anzusprechen. Nach einer Weile mache sich Jetlag, Nahtoderfahrung und die Sicherheit von Hicks' Armen bemerkbar. Wenn ich mich unter Wasser wäre, würde ich gähnen. Stattdessen schließe ich die Augen....

Blue Secrets / HiccstridWo Geschichten leben. Entdecke jetzt