Kapitel 88

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"Nein", antwortet Hicks und kratzt sich den Nacken. "Zumindest nicht direkt. Wir wissen nicht, wie er es gemacht hat. Einige sagen, dass er mit seiner Kraft die Erde bersten lassen und so die Wellen auftürmen konnte. Andere sagen, er hätte es mit seiner Schnelligkeit vollbracht. Wir wissen es nicht. Es ist lange her, dass jemand aus der Königsfamilie das letzte Mal die Gabe Tritons geerbt hat. So lange, dass die Archive sich darüber uneinig sind, was genau die Gabe ist."

Für einige Sekunden sitzen wir schweigend da, gefesselt von dem Geist, der von Hicks' Geschichte ausgeht. Gefesselt von allem, was gesagt worden ist, und von allem, was ungesagt geblieben ist.

Und je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich. "Bedeutet das alles, dass ich nirgendwo hingehöre?", frage ich und schrecke die beiden aus ihrem Tagtraum auf.

"Was meinen Sie damit?", fragt Dr. Grobian, dessen Augrn vom Blick in dir Vergangenheit noch immer glasig sind. "Im Wesentlichen sind wir uns alle einig, dass ich eine Missgeburt bin. Richtig?"

"Du bist keine Missgeburt", widerspricht Hicks. "Ich bin keine Syrena und ich bin kein Mensch. Die Syrena halten mich für eine Abartigkeit. Die Menschen werden micb aks wissenschaftliches Untersuchungsobjekt und Versuchstier missbrauchen, wenn sie davon erfahren. Was mich zur großen Frage führt, die immer noch im Raum steht, Dr. Grobian: Wie kommt es, dass es bis jetzt niemand herausgefunden hat?"

Dr. Grobian seufzt. Er zieht ein Taschentuch hervir und wischt imaginären Nebel von seinen Brillengläsern. Seine Bewegungen sind so bedächtig, so pedantisch, dass sogar ich erkenne, dass er mich beruhigen möchte.

"Astrid, meine Liebe, im Gegensatz zu Hicks kennen Sie mich noch nicht besonders lange. Doch ich betrachte Sie als meine Freundin und hoffe, dass auch Sie einen Freund in mir erkennen. Wenn wir also Freunde sind, kann ich ehrlich zu Ihnen sein, richtig?"

Ich nicke und kaue auf meiner Unterliooe, als sei sie mit Käsekuchen gefüllt. Dr. Grobian lächelt auf eine allgemeine, verbindliche Art. "Gut. Also dann. Ich glaube, dass Ihr Vater von Anfang an von Ihrer Besonderheit wusste."

Sofort kommen mir die Tränen, und ich weiß nicht, warum. Hicks wendet den Blick ab. "Das ist nicht möglich", flüstere ich. "Es isg einfach nicht möglich. Meine Mom hat immer erkannt, wenn er etwas verbergen wollte. Sie ist der reinste Lügenspürhund."

"Ich bin mir sicher, dass sie ebenfalls darüber Bescheid weiß", seufzt Dr. Grobian. "Wie Sie schon gesagt haben, Sie sind eine medizinische Anomalie", fährt er fort, obwohl ich mit den Lippen das Wort 'Missgeburt' forme.

"Ich habe selbst keine Kinder, aber wenn ich welche hätte, würde ich das auch nicht öffentlich machen wollen. Wissenschaftler von überall auf der Welt hätten Ihre Famikie verdolgt und darum gebettelt, einige Untersuchungen durchführen zu dürfen. Ihr Leben wäre das reinste Chaos gewesen. Ihr Vater wusste das."

Ich hole tief Luft. "Ich schätze, das könnte wahr sein. Aber die Sache ist die - wenn sie nicht meine Eltern sind, woher stamme ich dann?"
"Können Sie Ihre Mutter nicht einfach fragen?", schlägt Dr. Grobian vor.

"Sie würde mich in ein Irrenhaus einweisen lassen. Nein, warten Sie. Sie würde mir ins Gesicht lachen und mich dann einweisen lassen." Sofort kochen Erinnerungen an den Tag hoch, an dem ich fast ertrunken wäre, und lassen die Worte in meinem Mund ranzig schmecken.

Wie ich auf ihren Schoß gekrochen bin. Voller Vertrauen und Zuversicht. Wie ich ihr von den Seewölfen erzählt habe. Wie sie so heftig gelacht hat, dass sie keine Luft mehr bekam. Da ist mir zum ersten Mal bewusste geworden, dass ich mich meiner Mutter nichg anvertrauen kann.

Dr. Grobian nickt. "Aber Sie brauchen nicht zu sagen, dass Sie eine Syrena sind, oder? Das weiß sie vielleicht gar nicht. Sie weiß vielleicht nur, dass Sie anders sind."

"Ich schätze, da ist was dran", antworte ich zweifelnd. Wenn sie über mich Bescheid wüsste, über meine Gabe, hätte sie mich vor all den Jahren nicht ausgelacht. Sie hätte mich getröstet und mir an Ort und Stelle gesagt, was ich bin.

Oder etwa nicht? Plötzlich bin ich zu überwältigt, um klar zu denken. Meine Welt zerbricht immer wieder aufs Neue und setzt sich wieder neu zusammen. Jedes Mal entsteht ein neues Mosaik der Wirklichkeit. Vielleicht gehöre ich doch in ein Irrenhaus.

Ich hüpfe vom Untersuchungstisch und klatsche mit den nackten Füßen aufs Linoleum. "Ich bin bereit, nach Hause zu gehen", sage ich zu niemand Bestimmten. Ich ersticke beinahe an dem Wort 'nach Hause'.

Es fühlt sich fremd auf meiner Zunge an, als hätte ich es gerade erfunden. Als existiere es gar nicht. "Sie sind mit Ihren Untersuchungen fertig, oder, Dr. Grobian?"

Er steht auf streckt mir die Hand hin. "Ja. Ich werde nicht länger an Ihnen herumpiksen, meine Liebe." Jetzt hat sein Lächeln nichts Allgemeinverbindliches mehr. "Es war mir ein echtes Vergnügen, Sie kennenzulernen, junge Dame." Aber ich bin mit meinen Kleidern unter dem Arm bereits im Flur.

Blue Secrets / HiccstridWo Geschichten leben. Entdecke jetzt