Innerlich aufgekratzt von der indirekten Begegnung der Night-Class kehrte Yuna zusammen mit Agatha in ihrem gemeinsamen Zimmer zurück, doch als sie bereits die Türschwelle betrat, kam ihr das Zimmer überhaupt nicht mehr vertraut vor. Mit dem Gewissen, dass die Night-Class nicht außergewöhnlich wäre und dass sie nicht mehr wusste, wer ihr Bruder war, geschweige denn wie er aussah, hatte sie dieses Zimmer verlassen und kehrte nun mit reinem Gewissen zurück, das alles andere als erfreut über die Erkenntnis war, die sie nun hatte. Immer wieder kehrten diese grausamen Bilder vor ihrem inneren Auge wieder auf. Die roten Augen, die Reißzähne, das Blut...
Irgendwie konnte Yuna das alles nicht realisieren. Ihr kam die Erinnerung so unwirklich vor; es war eher ein Albtraum, der sich heimlich in ihre Gedanken schlich und ihr das Fürchten lehrte. Aber allein der Schmerz erinnerte sie stehts wieder daran, dass nichts von all dem irreal war.
»Yuna? Ist alles in Ordnung?«, ertönte plötzlich Agathas Stimme, die über die gesamte Zeit kein einziges Wort von sich gab. Sie zog es eher vor, Yuna zu einem späteren Zeitpunkt mit Fragen zu überhäufen, da sie mögliche Zurückweisung vermeiden wollte.
Schlussendlich verlangte ihre Neugierde es zu sehr danach, sodass sie ihr doch die Frage stellen musste.
»Huh? Oh, ich... Ja, es ist... alles in Ordnung«, antwortete sie mit einem aufgezwungenen Lächeln auf ihren Mundwinkeln, der schnell wieder verschwand.
Agatha brauchte nicht mehr als diese Reaktion, um zu erkennen, dass dies nicht der Fall war. Die arme Yuna schien immer noch sehr verstört von diesem Unfall gewesen zu sein.
»Sag mir, Agatha«, setzte sie fort, »was ist mir passiert? Verzeih mir, wenn ich zu aufdringlich wirke, aber ich... möchte es gerne wissen.«
Die Brünette sah sie mitfühlend an. Sie hatte bereits erwartet, dass Yuna ihr diese Frage stellte. Die Arme hatte wahrhaftig vergessen, was passiert war. Trotzdem war Agatha froh darüber, dass es alles war, woran sie sich nicht mehr erinnern konnte. Der Unfall hätte viel schlimmer ausgehen können. Trotzdem war dieses Thema keine Episode, worüber sie gerne sprechen wollte.
»Nun... als ich an dem Morgen aufgewacht bin und dich nicht auf deinem Bett liegen sah, hatte ich mir gedacht, dass du bereits auf den Beinen wärst und das Frühstück vorbereiten würdest - so wie jeden Morgen. Aber auch nachdem ich mich fertig gemacht hatte, warst du immer noch nicht zurückgekehrt...«, Agatha schaute bedrückt zu Boden und versuchte, ein Aufschluchzen zu unterdrücken, bevor sie sich wieder raffte und weiter erzählte, »also dachte ich mir, dass du schon mal zum Unterrichtsgebäude vorgegangen wärst, aber auch als der Unterricht bereits anfing, waren weder du, noch Yuuki oder Kiryu-kun anwesend.«
Während Agatha die Geschichte detailliert beschrieb, hing Yuna gebannt an ihren Lippen und machte keinerlei Anstalten, sich auf irgendeine Art und Weise ablenken zu lassen. Agatha merkte, wie neugierig sie war und alles, was sie an Erinnerungen verloren hatte, in sich hineinfiltern wollte.
»Als aber die erste Stunde vorbei war, kam plötzlich Yuuki«, Agatha hielt inne. Sie würde niemals vergessen, wie die Vertrauensschülerin sie mit diesen kummervollen und mitfühlenden Augen anblickte. Spätestens ab diesem Moment war ihr bewusst, dass mit Yuna etwas passiert war. Und diese Gewissheit trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Yuuki hatte erst in der Mittagspause eine Gelegenheit bekommen, mit ihr sprechen zu können, weil der verdammte Lehrer jegliche Unterhaltung verboten hatte. Bis dahin fühlte sich jede Minute wie ein ganzes Jahr an – es war die blanke Katastrophe.
»Yuuki erzählte mir, dass du dich in der Nacht aus dem Wohnheim geschlichen hättest; sie fragte mich zudem, ob ich etwas darüber wusste, was leider nicht der Fall gewesen war«, denn wäre dem so, so hätte sie Yuna mit Sicherheit aufgehalten, »du wärst die Treppe, die sich im unseren Wohnheim befindet, hinuntergefallen, als du nach draußen gehen wolltest. Yuuki meinte, dass du dir den Kopf sehr stark angestoßen... und dadurch eine Menge Blut verloren hättest.«
Sich dies vorzustellen, war als hätte man ihr das Herz aus der Brust gerissen. Agatha vermied es, ansatzweise daran zu denken, aber plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge ein schreckliches Bild von ihrer bewusstlosen Freundin, die am Fuße der Treppe lag; ganz alleine... von der Kälte der Nacht umhüllt... und das Blut auf den Fliesen. Dieses Bild erschütterte sie bis aufs Mark.
»Agatha!«
Sie zuckte zusammen. »Was?«
Yuna stürzte sich plötzlich auf sie und drückte sie fest in ihre Arme. Ihre Hände streichelten behutsam ihren Rücken und gaben ihr ein beruhigendes Gefühl.
»Es ist alles gut, ich bin da. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
Wie machte sie das nur? Yuna war ihr schon immer ein unlösbares Rätsel gewesen. Sie wusste sofort, wenn Agatha sich unwohl fühlte und reagierte dementsprechend darauf. Es war als könnte sie mit ihren blauen Augen, die jeden in Eis verwandeln könnten, in Agathas Seele hineinblicken. Das war zum einen ziemlich beängstigend, zum anderen aber auch sehr faszinierend.
Vielleicht bildete sie sich hier nur was ein.
Nach dieser langen, herzerwärmenden Umarmung fühlte sich nicht nur Agatha, sondern auch Yuna viel besser. So vergaß die Blauhaarige die schlechten Erinnerungen, auch wenn es nur für eine kurze Zeit war.
Am späten Abend machten sich die Mädchen bettfertig, denn Morgen erwartete sie ein langer Tag.
»Wie bitte?«
»Der heilige Sankt – Schokolatius Tag!«, antwortete Agatha mit strahlenden Augen, »dort schenken die Day-Class Schülerinnen ihrem jeweiligen Schwarm Süßigkeiten! Es ist so unglaublich aufregend! Ich habe mich schon das ganze Jahr über darauf gefreut!«
Yuna fand es sehr amüsant, ihrer Freundin dabei zuzusehen, wie sie voller Aufregung förmlich in Flammen aufging, aber von so einem Tag hatte sie noch nie gehört, sodass sie mit ihrer Freude nicht wirklich mithalten konnte.
»Hast du schon was vorbereitet?«, fragte sie stattdessen, um nicht völlig im Regen stehen zu bleiben.
»Alle Zutaten liegen bereit! Ich kann es kaum erwarten, morgen früh damit beginnen zu können! Magst du mitmachen? Du kannst auch deinem Schwarm Schokolade schenken.«
»Nein, kein Interesse«, verneinte sie mit einem Lächeln. Es war lieb von Agatha, dass sie sie mit einbeziehen wollte, da Yuna lieber einen Schatten spielte, der nicht um Aufmerksamkeit rang, vor allem nicht bei der Night-Class, bei denen sie durch ihr bloßes Auftreten schon genug Ärger angerichtet hatte. Aber auch wenn der Vorschlag sehr lieb war, lehnte sie es schlicht und weg ab, solch einen Schwachsinn zu betreiben. Yuna schwärmte für keinen Night-Class Schüler und würde es auch niemals tun. Außerdem würde sie sich ehrlich gesagt dafür schämen, wie ein hinterher gelaufener Idiot um die Aufmerksamkeit eines Schülers zu kämpfen, der es entweder lästig finden oder in vollen Zügen genießen würde. Das Letztere galt eher Aido, der dadurch seine Beute anlocken konnte!
Yuna schüttelte den Gedanken sofort ab. Das war das Letzte, worüber sie heute noch nachdenken wollte. Jedenfalls war es höchste Zeit, schlafen zu gehen. Auch wenn sie in den letzten Tagen sehr viel Schlaf finden konnte, fühlte sie sich dennoch sehr schlapp und hätte nichts gegen ein paar wenige Stunden Schlaf, selbst wenn sie wieder ihren Albträumen begegnen würde.
Glücklicherweise konnte sie trotz der neusten Ereignisse gut einschlafen...
Ein kleines Mädchen, dessen Gesicht vor Furcht verzerrt war, rannte und rannte so schnell sie konnte durch den Schnee, der ihr bis zu den Knie ging. Es war mitten in der Nacht... alles war dunkel, aber durch ihre Fähigkeiten war es ihr möglich, im Dunkeln sehen zu können.
Das Mädchen rannte weiter und spürte die furchteinflößende Aura einer Person, die ihr dicht auf den Fersen war. ›Warum ich?‹, fragte sie sich immer wieder, ›warum musste ich von zu Hause fliehen? Ich habe doch nichts Böses getan.‹
Plötzlich griff eine Hand nach ihrer dicken Jacke. Das Mädchen schrie auf und entzog sich mit aller Kraft, die sie hatte, aus seinem Griff. Das einzige, was er schließlich fassen konnte, war ihre Jacke, die er sofort zu Boden warf. Er wollte sie töten!
Mit nichts anderem als ihrem langen, dünnen Kleid quälte sie sich weiter durch den Schnee, der sie ausbremste und sie das Gleichgewicht verlieren ließ. Wie sehr sie doch gerne ihre Fähigkeiten einsetzen würde, um den Schnee von sich zu schieben, doch es ging einfach nicht...
Das Mädchen erreichte eine Klippe, die gleichzeitig eine Sackgasse war.
»Hab ich dich endlich!«, sagte der Mann mit einem bedrohlichen Unterton in seiner Stimme.
Sie wagte sich nicht einmal umzudrehen. Aber sie musste, um sich verteidigen zu können und so tat sie es. Seine Augen leuchteten rot, seine Kleidung war zerrissen. Er näherte sich ihr und streckte seine langen Klauen nach ihr aus, die sie zerreißen würden. Der Mann öffnete seinen Mund und sie konnte seine Reißzähne erkennen, die nach ihrem Blut gierten. Das Mädchen begann, schneller zu atmen. Sie wusste nicht, wohin sie fliehen könnte, denn hinter ihr erwartete sie der Abgrund ins Meer, der sie definitiv verschlingen würde.
Der Mann näherte sich unaufhaltsam... er machte nicht einmal halt... und plötzlich... veränderte sich die Erscheinung des Mannes in... in ihn!
»A-ido-Sen-pai?«, stammelte das Mädchen. Sie hatte erwartet, dass dieser bluthungrige Vampir hinter ihr her sein würde, aber... Aido? Warum er?
Ihre Augen weiteten sich, als seine Lippen von Blut getränkt waren. Resigniert fasste sich das Mädchen an ihrem Hals und spürte augenblicklich eine warme Flüssigkeit. Es war ihr Blut... Aber warum?
»Keine Angst«, hörte sie ihn sprechen und spürte seine Hand an ihrer Wange; seine zarten Finger streiften an ihrem Hals entlang, »es wird nur für eine kurze Zeit wehtun, aber dann bist du von deinem Leid befreit. Lass mich dich nur töten...«
Mit einem lauten Aufschrei schreckte sie aus ihrem Albtraum auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie kaum zurückhalten konnte.
»Yuna!«, rief Agatha, die sofort wach wurde und auf ihre Freundin zurannte, »sieh mich an! Es ist alles gut. Es war nur ein Traum«, sagte sie beruhigend und drückte sie fest in ihre Arme.
Yuna besaß keinerlei Kraft mehr, um ihre Tränen zurückzuhalten und schluchzte unaufhörlich. Dieser Traum... er war anders... anders als der, den sie seit sieben qualvollen Jahren mit sich führte. Dieser Traum glich nicht mehr ihrem gewöhnlichen, denn es handelte sich diesmal mehr als nur ein Albtraum. Es war die Hölle! Sie sah ihren Bruder, der seine eigene, geliebte Schwester töten wollte! Und hatte er dies tatsächlich nicht beinahe erreicht? Vor bereits drei Wochen hatte er sie angegriffen und sie um eine Haaresbreite getötet! Yuna dachte, dass sie mit dem wahren Wesen der Night-Class klar käme, doch sie konnte immer noch die scharfen Klauen des Level-Es spüren, der sie vor sieben Jahren gejagt hatte...
Als wäre es gestern gewesen...
Als wäre das nicht schlimm genug gewesen, spürte sie auch Aidos Reißzähne, die sich in ihrem Hals vergruben und nach ihrem Blut gierten. Yuna spürte immer noch, wie er ihr das Blut Schluck für Schluck aus ihrem Körper nahm und ihr die Kraft raubte. All diese Empfindungen verschmischten sich zu einer Masse, von der sie nicht unterscheiden konnte, was zu wem gehörte. Es ließ sie so stark verzweifeln und daran zerbrechen. Doch bevor das überhaupt möglich war, hörte Yuna eine zarte Stimme, die immer wieder die gleichen Worte nach ihr rief.
»Es ist alles gut, siehst du?«, ja, es war die Stimme von Agatha, die ihre sanften Hände um ihr Gesicht legte und sie dazu brachte, in ihre grünen Augen zu blicken, »du bist nicht mehr im Traum. Ich bin hier bei dir. Es ist alles gut, Yuna. Bitte weine nicht«, ihre Stimme klang so sanft – wie eine Feder, die langsam zu Boden fiel. Agatha strich mit beiden Daumen die Tränen vorsichtig weg; sobald Yuna in die grünen, strahlenden Augen blickte, wurde ihr nach und nach bewusst, dass sie sich nicht mehr im Traum befand.
Es benötigte einige weitere Minuten und Atemzüge, bis Yuna sich beruhigen konnte, aber die gesamte Zeit über wich Agatha keinen Schritt von ihrer Seite, schwieg und schenkte ihr beruhigende Streicheleinheiten, bis sie sich wieder im Griff hatte, als Agatha plötzlich ihren Oberarm streichelte und etwas merkwürdiges unter ihren Finger spürte. Der Raum war zwar dunkel, aber es brauchte ebenso kein Licht, um die Umrisse auf ihrem Arm zu erkennen.
»Eine Tätowierung?«, Agatha kicherte, »bist du nicht etwas zu jung dafür?«
Yuna zuckte bei der Entdeckung zusammen. »J-Ja, i-ich meine nein. Es ist kompliziert.«
Aber Agatha hörte schon nicht mehr zu. Sie war zu sehr von dieser erstaunlich großen Tätowierung begeistert, die den Oberarm ihrer besten Freundin schmückte. Sie war komplett schwarz und ohne zusätzlichen Farben, jedenfalls glaubte sie das bei der Dunkelheit: Eine große Schneeflocke, dessen Kristallmuster sehr detailliert gezeichnet war. Sie war außerdem von zwei Dolchen geschmückt, die der Tätowierung eine Art Wappen verliehen.
»Es ist wunderschön.«
Yuna neigte sich leicht nach hinten, um Agathas Träumereien zu entfliehen. Sie musste unbedingt weitere Fragen vermeiden, die sie stellen könnte, denn sie wusste, dass jeder diese Tätowierung schön finden würde, aber niemand konnte sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr sie ihr eigenes Tattoo aus tiefster Seele hasste.
Jedenfalls hatte die Blauhaarige es satt, weiter über sich, Träume oder sonstiges zu sprechen. Seufzend stieg sie aus dem Bett und raufte sich ihr Haar zurecht.
»Ich werde mir erstmal einen heißen Kakao zubereiten«, denn Schlafen war das Letzte, was sie jetzt noch tun wollte.
»Warte!«, rief plötzlich Agatha und hielt sie am Arm fest, »ich werde dich begleiten.«
»Huh?«
»Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«
»Aber wovon redest du?«, fragte Yuna mit einem Lächeln, denn dieses Verhalten war mehr als merkwürdig gewesen.
Agathas Lächeln verflog wieder, als sie traurig entgegnete: »Wenn du wieder alleine gehst, wirst du schon wieder fallen und ich will meine beste Freundin nicht verlieren.«
Natürlich. Yuna hatte vergessen, dass sie die wahren Umstände ihrer Abwesenheit nicht kannte. Sie musste wachsamer sein, um keinen Verdacht auf sich zu lenken. Es war zwar nicht ihre Art, dafür zuzustimmen, einen Beschützer zu benötigen, aber sie wollte Agathas Gemütszustand nicht verschlimmern, sodass sie ausnahmsweise zustimmte.
Das erste, was Yuna wahrnahm, was das Licht, das zu ihrem Leidwesen aus der Küche stammte. Sie seufzte; es war ihr endlich mal gelungen, alleine zu sein, nachdem sie es geschafft hatte, Agatha zurück auf ihr Zimmer zu schicken, nachdem sie gemeinsam mit ihr die Treppe runtergelaufen war. Yuna musste dabei schmunzeln, wie Agatha voran ging und ihr Handgelenk fest umklammert hielt. Zugegebenermaßen berührte es sie sehr, wie jemand sie wie einen kostbaren Schatz behüten wollte. Das erinnerte sie sehr an...
Yuna schüttelte den Kopf, um den Gedanken schnell wieder abzuschütteln, als ihr jedoch ein weiterer Gedanke in den Kopf stieg. ›Seine Lippen waren getränkt von meinem Blut...‹, wieder schüttelte sie den Kopf, ›Ich brauche unbedingt einen Kakao.‹
Wohin das Auge reichte – alles war unordentlich, als Yuna die Küche betrat. Das Tablett, sowie einige Schüsseln und Kochtöpfe, die überall zu finden waren, waren mit Überresten von Schokolade übersehen. Das nächste, was Yunas Augen einfingen, waren die vielen Schokostückchen, die teilweise auf dem Boden lagen. Sie fand sogar geschmolzene Schokolade an den Küchenwänden...
Und dann war dieser aufsteigende Qualm, der von der Herdplatte stammte. Instinktiv rannte sie darauf zu, stellte den Herd aus und nahm einen Lappen, um die Schokolade, die auf der Herdplatte klebte, wegzuwischen. ›Wer um alles in der Welt will die Küche in Brand stecken?‹
»Oh! Yuna, was für eine Überraschung!«
Es war ausgerechnet die Vertrauensschülerin, die Yuna antraf. Sie mochte sie zwar unglaublich sehr und bewunderte sie auch immer um ihr fröhliches Gemüt, aber die Blauhaarige war momentan nicht für Gesellschaft zu haben, vor allem nicht für Yuukis. Am liebsten wollte sie sich ihren warmen Kakao machen und am Esstisch entspannen, bis die Sonne aufging und sie sich für den Unterricht fertigmachen musste.
»Tut mir echt leid für das Chaos, aber es hat nicht so geklappt, wie ich es wollte«, entschuldigte sie sich mit einem verlegenen Lächeln.
Vielleicht hätte Yuna auch lügen sollen, indem sie ihr sagte, dass sie hier ungestört sein wollte, um den ganzen Schulstoff nachzuholen, der auf sie wartete, aber die genauen Worte dafür lagen ihr nicht auf der Zunge. Stattdessen platzen aus ihr die Worte heraus, die sie sofort wieder bereute: »Soll ich dir helfen?«
Auch ihre Art, wie sie Yuuki angesprochen hatte, war für Yuna entsetzlich. Normalerweise hätte sie ihr zuerst eine schöne Nacht gewünscht und nach ihrem sonstigen Wohlbefinden gefragt, bevor sie ihr diese Frage stellte. Yunas Mutter hätte sie ganz bestimmt dafür getadelt.
»Oh, das würdest du tun? Wie toll!«, antwortete Yuki und bedankte sich mit Hilfe einer Umarmung.
»Yu-ki, w-we-gen vor-hin… verzeih...«
»Nein, nicht sprechen! Es ist alles gut.«
Die rot/braunen Augen, die auf mich hinabblicken. In ihnen erkannte ich Trauer, Entsetzen, Mitgefühl, Schuldbewusstsein.
Yuna erstarrte augenblicklich, als sie die Erinnerung wieder vor ihrem inneren Auge sah.
Die roten Augen, die sich ihr näherten und nach ihr verlangten...
Sie sah erneut diese Gestalt in ihrem Traum, die sie bis zur völligen Erschöpfung nach ihr jagte. Seine Klauen streiften ihre Haut und verursachten die schlimmsten Schmerzen, die sie bis heute noch spüren konnte. Und dann wechselte der blutrünstige Level-E seine Gestalt zu ihn...
Yuna wollte schreien, doch gerade als es ihr gelang, spürte sie seine Lippen an ihrem Hals. Diese Berührung bis hin zum Schmerz, den er ihr vermittelte, als er seine Reißzähne in ihr vergrub, ließen sie vollkommen in Stein verwandeln. Es war alles so verwirrend und furchtbar entsetzlich – die Realität und die Albträume drohten erneut zu verschmelzen...
»Yuna? Ist alles in Ordnung?«
Die Angesprochene zuckte zusammen, fasste aber schnell einen klaren Gedanken und antwortete mit einem Lächeln: »Ja, vielen Dank.« ›Ich muss aufpassen!‹
Die Vertrauensschülerin schien glücklicherweise nicht länger um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, denn sie machte sich wieder daran, die Schokolade klein zu schneiden, so gut es überhaupt möglich war bei dem Chaos, der hier herrschte. Yuna entschied sich dafür, ihr zu helfen, indem sie die Küche aufräumte. Doch als sie währenddessen mitbekam, wie Yuuki sich ungeschickt anstellte, gab sie das Saubermachen sofort auf und ging ihr zur Hand.
»Ich hätte ehrlich gesagt nie damit gerechnet, dass du Schokolade für einen Night-Class Schüler machen würdest. Die ist für Kuran-senpai, nicht wahr?«
»W-Was?«, fragte die Vertrauensschülerin schockierend und ließ dabei ausversehen das Messer zu Boden fallen, »e-es ist nicht so wie es aussieht, Yuna. Er hat sehr viel für mich getan und ich will mich nur dafür bedanken!«
Das war äußerst erstaunlich. Yuna hätte von reinblütigen Vampiren alles erwartet, aber dass sich einer um ein normales Menschenmädchen wie Yuuki sorgte, ging weit über ihre Vorstellungskraft hinaus. Aber vielleicht tat er dies auch nur, um sie für seine Zwecke zu benutzen – man konnte ihnen nicht trauen, so viel stand fest. Deswegen musste sie auch gut auf die Vertrauensschülerin aufpassen, damit sie nicht in seine Hände fiel.
»Na, wenn du das sagst.«
»Aber was ist mit dir?«
»Huh?«
»Ich hätte ebenso wenig von dir erwartet, dass du ein Geschenk für einen Night-Class Schüler machen würdest. Ich dachte, dass sie dich nicht interessieren«, meinte dagegen Yuuki mit einem vielsagenden Blick auf Yunas Kreation.
Die Blauhaarige dachte zunächst, dass sie den Verstand verloren hätte, doch als sie dann herabblickte, musste sie feststellen, dass sie diejenige war, die den Verstand verlor: Auf dem Teig, den sie für Yuuki herstellen wollte, formte sie ein kleines Schokoladentörtchen.
»Oh, ich... ehm...«, sie konnte sich selbst einmal nicht erklären, wie es dazu überhaupt kam. War Yuna denn mittlerweile so benebelt, dass sie Schokolade für Aido machte, obwohl sie ihn für das, was er tat, aus tiefster Seele hasste? Oder waren ihre hasserfüllten Empfindungen zu weit hergeholt? Unsinn, eigentlich musste sie ihn hassen! Er hatte es nicht anders verdient, da er sie sehr verletzt hatte und es ihn nicht einmal kümmerte, wie sie dabei dachte. Dieser Junge war ein Unruhestifter und ein Idiot zugleich! Soll ihn doch der Teufel holen!
Wutentbrannt schlug sie mit der Faust auf den Teig und zerstörte damit die Form.
»Yu-na?«
Aber warum hörte sie trotz allem nicht auf, solch einen Schwachsinn zu betreiben? Was trieb sie dazu an, einem ungehobelten Schüler einen Gefallen zu tun?
»Ach, ich mag ihn nicht besonders. Er ist egoistisch, kostet die Aufmerksamkeit der Day-Class in vollen Zügen aus und hält sich für den Größten. Wenn du mich fragst, ist er der größte Idiot!«
Yuuki fing augenblicklich an zu lachen. »Sowas habe ich von keinem bisher gehört. Wenn du wütend wirst, bist du echt lustig, Yuna!«
Sie schmunzelte bei dieser Bemerkung. Yuna war alles, nur nicht lustig. Vor allem nicht, wenn sie wütend war.
»Und wer ist es, den du nicht so besonders magst?«
Yuna zögerte. Sollte ihre Beschreibung nicht ausreichen, um zu wissen, wen sie damit ansprach? Oder täuschte Yuuki damit nur weiterhin ihre Ahnungslosigkeit vor? Viel wichtiger war die Frage, ob Yuna den Namen nennen sollte. Aber wenn sie nun ein großes Geheimnis darum macht, würde das nicht auffallen? Sie musste es sagen, damit jeder weiterhin dachte, dass sie von jener Nacht nichts wusste. Wie schwer das alles doch war...
»Aido-senpai.«
Und dann entstand die Reaktion, die Yuna bereits geahnt hatte. Die Vertrauensschülerin riss für eine Sekunde die Augen weit auf und blieb wie erstarrt auf der Stelle stehen, so als konnte sie nicht glauben, was sie da gerade hörte, aber Yuuki riss sich schnell wieder zusammen und setzte eine gespielte, überraschende Miene auf.
»Na sowas. Bist du dir sicher, dass du ihn nicht magst?«
»Absolut!«, doch während sie ihren Satz beendete, merkte sie, wie falsch sich das anhörte...
Nein! Sie hasste ihn aus tiefster Seele. Yuna durfte einfach nur nicht vergessen, was er ihr angetan hatte...
Die ganze Nacht über verbrachten die Mädchen ihre Freizeit in der Küche und probierten alles mögliche an Süßigkeiten aus, die es gab und Yuuki schaffte es auch, ihr kleines Geschenk fertigzustellen, als die Sonne hinter dem Horizont aufging. Spätestens jetzt war es an der Zeit, sich für den Unterricht fertigzumachen.
Der Unterricht war besonders nervenaufreibend gewesen. Yuna hatte nicht einmal still sitzen können und musste sich immer wieder selbst dafür ermahnen, sich zusammenzureißen. Nur war dies leichter gesagt als getan. Immer, wenn sie dachte, die Kontrolle wieder über sich erlangt zu haben, scheiterte sie und fühlte erneut das mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend. Yuna versuchte es weiterhin, indem sie dem Unterricht folgte, doch die Berechnungen von Integralen und alles was dazu gehörte, konnte sie bereits im Schlaf und langweilte sie nur noch.
»Du bist ja ganz schön nervös«, hörte sie Agatha leise kichern.
Yuna war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Sie schämte sich innerlich für ihr Verhalten und würde sich am liebsten selber das Herz herausreißen als weiterhin unnötig Nervosität zu schieben. Deswegen stieß sie Agatha unsanft gegen den Arm.
»Und was ist mit dir? Normalerweise treibst du einen genauso großen Aufstand wie der Rest der Day-Class. Wo sind denn deine Pralinen?«, fragte sie mit einem streitlustigen Seitenblick auf Agatha. Eigentlich war diese Unterhaltung eine ebenso weniger erfolgreiche Variante gewesen, um nach Ablenkung zu suchen, aber während eines Gespräches gleichzeitig wachsam zu sein, um nicht von dem Lehrer erwischt zu werden, hatte seine Vorteile.
»Ich habe keine gemacht.«
»Was? Warum denn nicht?«
»Deswegen«, murmelte sie und zeigte auf das kleine transparente Tütchen mit der blauen Schleife, die sich unter Yunas Tisch befand, »Yuuki hat mir gesagt, für wen das ist.«
Die Blauhaarige senkte beschämt ihren Blick. Es hatte Yuna Spaß gemacht, mit Yuuki viele Rezepte auszuprobieren. Das hatte sie wiederum dazu ermutigt, selbst etwas zu kreieren, aber natürlich nicht in Hinblick darauf, dies zu verschenken. Ganz im Gegenteil: Sie wollte es mit Agatha teilen – als Dank dafür, dass sie immer so fürsorglich war. Aber ohne auch nur einen Grund dafür zu nennen, packte sie es stattdessen mit dem Vorsatz, ihm das zu geben, ein. Ihre Entscheidung war in keinster Weise gerechtfertigt und warum sie deswegen so nervös war, konnte sie sich ebenso weniger erklären.
»Und was hat dich daran gehindert, selbst Schokolade zu machen?«, fragte Yuna.
»Weil ich ebenso geplant hatte, die Pralinen an Aido-senpai zu überreichen«, ›nur das meine um Längen nicht besser wären als die von dir‹, fügte sie noch in Gedanken hinzu.
»Oh, das wusste ich nicht«, sie nahm das kleine Tütchen, worin ein kleines Schokotörtchen aus Zartbitterschokolade verpackt war, das mit türkisem Zuckerguss und kleinen Schneeflocken aus essbarem Papier verziert war und streckte es ihrer Freundin unter dem Tisch entgegen, »du hast dich viel mehr auf diesen Tag gefreut als ich. Diese Freude soll ganz allein dir vergönnt sein.«
Agatha kicherte. »Du sagst manchmal echt die seltsamsten Dinge, Yuna. Aber nein. Er würde nur dich beachten.«
Yuna errötete augenblicklich. »D-Das ist doch lächerlich!«
»Doch, es ist wirklich so. Als du während der gesamten Zeit über im Krankenzimmer lagst, hatte er bei jedem Klassenwechsel nach dir gesucht. Ich weiß es, weil es nur zu offensichtlich war. Er schenkte den Schwärmerei zwar Beachtung, suchte aber mit seinen Blicken nach dir. Und immer, wenn er an uns allen vorbei ging, ließ er seine fröhliche Seite fallen. Ich dachte zuerst, dass er irgendeine Midlife crisis hätte, aber irgendwann fand ich das ziemlich seltsam und so hab ich ihn dann mal näher beobachtet«, bei den letzten Worten nahmen auch Agathas Wangen die rötliche Farbe an, »... d-du weiß, was ich meine.«
Das war interessant. Yuna dachte bisher, dass es ihm völlig gleichgültig war, einen Menschen verletzt zu haben. Doch... konnte das wirklich sein? Konnte ein Vampir Reue empfinden? Nein, das war vollkommen unsinnig. Wenn er Reue empfand, dann nicht, weil er einen Menschen verletzt hatte, sondern nur, weil er dafür sicherlich bestraft wurde. Der Rektor konnte das unmöglich auf sich sitzen lassen. Vielleicht war es das beste, ihm das Schokotörtchen nicht zu geben. Wozu denn auch? Um seiner unverschämten Handlung genüge zu tun?
»Keine Sorge, Yuna. Ich bin nicht sauer, weil du für ihn etwas gemacht hast. Höchstens überrascht, aber nicht sauer. Du konntest es immerhin nicht wissen, für wen ich Schokolade machen wollte. Aber wenn du ihm das nicht überreichst, dann kannst du dich darauf verlassen, dass ich sauer auf dich sein werde.«
Agatha drückte ihre kleine Drohung mit einem Lächeln aus, das aber keineswegs seine Wirkung verfehlte. Yuna konnte an ihren Augen erkennen, dass sie es mit ihr ernsthaft meinte.
»Du willst jemandem wie mir drohen?«, fragte Yuna gefährlich leise und sie konnte aus dem Augenwinkel beobachten, wie Agatha kurz zusammenzuckte.
»Ich will es nur nicht bereuen, ihm nichts gemacht zu haben. Wenn ich die Gewissheit habe, dass du ihm etwas geschenkt hast, dann bin ich vollkommen zufrieden. Wie gesagt: Er würde nur dich beachten.«
Yuna wusste darauf nichts zu sagen und ließ das Gespräch damit offen. Sie empfand es immer noch idiotisch, dass er nur Augen für sie haben würde und sie ihm das Geschenk überreichen wollte (wenn man hier von Wille überhaupt reden konnte. Es handelte sich eher um ein Trieb, der sie dazu veranlasste, dies zu tun). Sie ließ sich von niemanden bedrohen; ihr Herz schrie jedoch, dass sie es nicht zu ernst nehmen sollte und es das Richtige war, was sie tat, während ihr Verstand ausdrücklich Nein! schrie. Aber dieser Zwiespalt half ihr auch keinen Schritt weiter...
Tatsache war, dass der heutige Tag mehr als nervenaufreibend gewesen war. Nicht nur Yuna, sondern auch die Day-Class Schülerinnen waren sehr nervös, nur bestand der Unterschied darin, dass sie ihre Nervosität bemerkbar machten und Yuna nicht. Der Lehrer hatte irgendwann regelrecht verärgert gewirkt, weil so gut wie keiner seinem Unterricht Beachtung schenkte.
Als die Schulglocke die Erlösung für jeden herbeibrachte, rannten die Mädchen aus dem Gebäude, damit sich die ersten anstellen konnten und somit Ihre Schokolade ganz sicher vergeben konnten. Auch Yuuki machte sich dran, frühzeitig zu erscheinen, um ein frühes Chaos zu verhindern. Zero hingegen wirkte überhaupt nicht gehetzt und spazierte förmlich aus dem Schulgebäude. Yuna blieb in der Zeit sitzen und beobachtete lieber, wie diese Raffgeier nach ihren Fans hinterher eiferten.
»Worauf wartest du?«, fragte Agatha ebenfalls aufgeregt und zerrte Yuna aus ihrem Platz, »los jetzt, sonst schaffen wir es nicht mehr!«
»I-Ich«, stammelte Yuna nervös, doch ihre Beine fühlten sich so unglaublich schwer an, als dass sie ihr gehorchen könnten, »kann das nicht.«
»Doch, das kannst du! Los jetzt!«
»Agatha...«
»Komm endlich; das wird ein Spaß!«
»Agatha!«, rief Yuna nun mit kräftiger Stimme.
Die Angesprochene drehte sich zu ihr um und erkannte plötzlich, wie sehr es ihrer Freundin schwerfiel, den ersten Schritt zu bewältigen. Erst jetzt bemerkte sie auch, wie Yunas Hand in ihrer zitterte.
»Was ist los?«, fragte sie sanft und setzte sich zu ihr hin, »hast du etwa Angst oder was hindert dich daran?«
»Ich...«, sie senkte ihren Blick. Es war unmöglich, ihrer Freundin irgendetwas davon zu sagen, aber wie hätte sie auch in Worte fassen können, was momentan in ihr vor sich ging?
»Du hast Angst.«
Yuna nickte. Sie konnte sich das unmöglich in Worte eingestehen, sodass es Agatha war, die das Sprechen für sie übernehmen musste.
»Aber wovor? Ich bin mir sicher, dass er dich nicht abweisen wird. Hast du etwa davor Angst?«
Yuna schüttelte den Kopf und eine verzweifelte Miene bildete sich auch Agathas Gesicht. Wen wunderte das auch? Niemand konnte es wissen. Niemand, außer Yuna selbst.
So stand sie von ihrer Bank auf und tätschelte Agatha auf den Kopf – es war sehr aufmerksam von ihr, dass sie sich Mühe gab, aber da musste sie alleine durch.
Es war laut, sehr laut. Nein – unerträglich! Am Tor der Night-Class standen am gepflasterten Weg kleine Eisentore, die jeweils mit dem Namen eines Night-Class Schülers versehen waren. Es wurde also noch lächerlicher als sie es für möglich halten konnte...
Als Yuna den ersten Eindruck widerwillig hinunterschluckte, sah sie als nächstes, wie Yuuki versuchte, den ganzen Tumult zu organisieren. Dazu hatte sie eine kleine Pfeife in der Hand gehabt, damit sie auch nicht zu übersehen war. ›Wie süß.‹
Plötzlich öffnete sich das große Tor und Yuna musste feststellen, dass sie mitten auf dem Weg stand. Sofort rannte sie zur Seite und versteckte sich hinter einem Baum, um unbemerkt zu bleiben. Von hier aus hatte sie aber eine gute Sicht auf das Geschehen gehabt, sodass sie fürs erste beobachtete. Agatha war die einzige, die wusste, wo Yuna war und schüttelte deswegen den Kopf, ging aber dann unbemerkt auf sie zu und lehnte sich am Baum an.
»Du weißt schon, dass das keine Lösung ist?«, fragte sie belustigt und tat weiterhin so als ob sie mit niemandem reden würde.
»Sei still und hetze mich bitte nicht.«
Daraufhin musste Agatha laut lachen, das Yuna der Lautstärke wegen nicht einmal heraushören konnte.
Als die Night-Class in Sichtweite war, suchte die Blauhaarige sofort nach Aido ab und fand ihn auch ohne Probleme, da er voraus rannte und sich sichtlich auf die Schokolade zu freuen schien, die er bekommen würde. Yunas Herz fing Augenblick an, in die Höhe zu schlagen. Er hatte sich über die Jahre so verändert, war umso wunderschöner, aber das einzige, was an ihm noch blieb, war sein Wechsel zwischen kindlichem und ernsthaftem Verhalten. Das mochte sie so an ihm... gerade deshalb hatten sie früher so viel Unsinn veranstaltet, wofür sie immer wieder Ärger bekamen... Diese Erinnerung lag plötzlich so schwer in ihrem Herzen und trieb ihr die Tränen in die Augen, die sie zurückhalten musste. Sie vermisste ihn seit sie ihn verlassen musste und von Tag zu Tag wurde dieses Gefühl umso unerträglicher. Am liebsten würde sie sich nun in ihr Bett verkriechen und weinen, während sie über diese Zeiten nachdachte, jetzt, da sie sich wieder an alles erinnern konnte...
Doch das plötzliche Gefühl verschwand, als ihr bewusst wurde, dass alles, was Agatha ihr zuvor im Unterricht sagte, nirgendwo zu erkennen war. Er genoss es, angehimmelt zu werden und suchte keineswegs nach ihr ab. Es war also, wie sie es erwartet hatte: Aido zeigte keinerlei Reue. Agatha hatte sich geirrt. Es gab also keinen Grund, ihm ihr Geschenk zu überreichen. Sie wusste nicht einmal, wieso sie den ganzen Umstand gemacht hatte und nun hier war. Alles, was sie hier sah, war die vollkommene, überhebliche Night-Class, darunter Aido, der sich wie ein Idiot verhielt; sein Verhalten gegenüber der Day-Class Schülerinnen brachte sie zur Weißglut!
Und plötzlich hatte Yuna es realisiert, warum sie es nicht leiden konnte, wenn Aido sich anhimmeln ließ. Diese Erkenntnis hätte sie am liebsten sofort in die Flucht geschlagen, denn der Grund war genauso Idiotisch wie Aido höchstpersönlich: Yuna war eifersüchtig! Es gab aber keinen Grund dafür und das wusste sie. Sie haben sich beide über die Jahre voneinander entfernt – er hielt sie, die wahre Asuna für tot! Sie hätte nicht eifersüchtig sein dürfen, aber warum sie es trotzdem war, konnte sie sich beim besten Willen nicht beantworten.
Während der gesamten Szene, die sich hier ereignete, blieb Yuna unbemerkt hinter dem Baum stehen und auch Agatha machte keine Anstalten, sie da raus zu locken, wofür sie auch sehr dankbar war. Das einzig spannende, was sich hier überhaupt ereignen konne, war ein kleiner Aufruhr zwischen Kiryu-kun und dem Hausvorstand der Night-Class. Dabei fiel Yuna auf, dass der Vertrauensschüler an sich kein besonders gutes Wort für die Night-Class einlegte. Seine Blicke reichten aus, um tiefsten Hass hervorzurufen. Yuna wäre definitiv interessiert gewesen, warum dies so war, aber das konnte sie selbstverständlich nicht riskieren. Immerhin sollte jeder im Glauben stehen, dass sie ihre Erinnerungen verloren hätte.
Als dann auch der Aufruhr zwischen den beiden nachließ, entfernte sich die Night-Class von den Schülerinnen. Auch die Day-Class ging nach und nach zurück zu ihrem Wohnheim.
»Du verpasst ihn noch.«
Das wusste sie, aber sie konnte ihre Beine nicht dazu bringen, sich vorwärts zu bewegen. Alles, was sie tun konnte, war, zuzusehen, wie er davon ging... ›Und dann noch mit der gesamten Schokolade in den Händen, die er von der Day-Class bekommen hat!‹
»Jetzt reichts!«, rief Agatha verärgert und packte Yuna am Arm, »du gehst da jetzt hin, verdammt nochmal! Was ist überhaupt los mit dir? Bist du denn etwa so verknallt in ihn, dass du dich so benehmen musst?!«
Yuna ließ den Mund weit offen und brauchte einen Moment, bis sie ihr konterte: »I-Ich bin nicht-«
»Ausreden! Du schlägst dich mit Ausreden durchs Leben!«
»Wie kannst du es wagen!«, zischte sie vor Wut. Yuna ließ sich vieles gefallen, aber das ging nun zu weit, »du hast keine Ahnung von meinem Leben und du hast dich da auch rauszuhalten!«
»Ich brauche nicht deinen Lebensumstand zu kennen, um zu wissen, was los ist. Denk doch mal nach: Seitdem du das Krankenzimmer verlassen hast, bist du wie ausgewechselt. Es ist als würde ich mit einer Mauer reden. Und immer, wenn ich mich dir annähere, distanzierst du dich von mir! Öffne dich jemandem und fang endlich an zu leben!«
Bei dem letzten Satz schubste sie Yuna mit voller Wucht zum Weg. Die Blauhaarige kam kurz ins stolpern, konnte aber zum Glück einen Sturz vermeiden. Als sie sich umdrehte, war Agatha plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich irgendwo versteckt.
Aber sie hatte recht... mit allem... wie immer. Yuna wusste nicht, wie sie sich nach all dem verhalten sollte. Es war zu viel und zu schwer für eine Person. Zudem musste sie das alles noch geheim halten. Sie hatte recht; Yuna benutzte immer wieder Ausreden, aber Agatha konnte nicht wissen, warum. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, zu leben. Und vielleicht war das jetzt der erste Schritt, wenn sie den nur wagen könnte, denn alles, was sie bisher tat, war, ihm nachzusehen, wie er mit den anderen Night-Class Schülern zum Unterrichtsgebäude lief.
Yuna öffnete den Mund, um nach ihn zu rufen, aber dann dachte sie, wie blöd sie sich vorkommen müsste, um das zu tun. Würde sie nach ihn rufen, wäre sie doch genauso hirnlos wie die anderen Mädchen und sie wollte nicht, dass man so über sie dachte.
Aber Moment mal: Seit wann scherte sie sich darum, wie er über sie dachte? Ihr sollte es doch völlig egal sein, immerhin war er ein Idiot, dem es egal war, wenn Menschen zu Schaden kommen. Und damit sie nicht wie der letzte Vollidiot dastand, der sich darüber sorgen machte, wie man über sie dachte, musste sie etwas unternehmen, sofort!
»Aido-senpai!«, doch nachdem sie bereits seinen Namen gerufen hatte, verstummte sie plötzlich und errötete ohne jeglichen Grund.
Sie hoffte inständig, dass er sie nicht gehört hatte, doch ihre Hoffnung verschwand in Windeseile, als er sich umdrehte und sie mit seinen blauen Augen förmlich einfing. Und dann fiel ihr wieder ein, dass er ein Vampir war, der sie angegriffen hatte und sie schlimmes erleiden ließ.
»Nanu«, sagte er mit einem verführerischen Lächeln, »das ist das erste Mal, das mein blauer Pfau nach mir ruft.«
Yuna merkte, wie knallrot sie wurde und sofort ihr Blick von ihm abwenden musste, bevor er es mitbekommen würde. Sie hörte nur seine Schritte, die immer lauter und lauter wurden... bis er unmittelbar vor ihr stehen blieb. Seine Nähe zu ihr flößte Furcht ein. Ihr Verstand schrie, dass sie unverzüglich verschwinden sollte, doch ihr Herz versuchte ihr einzureden, dass sie ihn nicht fürchten durfte, denn er war doch früher ein Teil ihres Lebens gewesen und sollte es immer noch gewesen sein. Der Duft von Lavendel, der ihr plötzlich in der Nase stieg, vermittelte ihr das sehnsüchtige Gefühl, ihm nahe zu sein und ihm zu sagen, dass sie seine Asuna war und überlebt hatte.
Yuna blickte zu ihm auf und sah seine hinreißenden Augen, die sie neugierig betrachteten. Doch sie schüttelte den Kopf. Wenn sie ihm die Wahrheit offenbaren würde, würde sie sich selbst und auch ihn in Gefahr bringen... vielleicht würde er seine Meinung über sie geändert haben und sie nun hassen... Ein erschütternder Gedanke, der ihr das Herz zerriss.
»Was hast du?«, fragte er und hob sanft ihren Kinn an, damit sie seinen Blicken nicht ausweichen konnte.
Diese Berührung ließ sie den Atem anhalten, doch ihr Verstand besaß immer noch die Oberhand über ihre Sinne. Yuna ging sofort einen Schritt zurück und streckte das Geschenk in seine Richtung aus. Dabei achtete sie stehts, ihn nicht anzuschauen.
»Das ist also für mich?«, fragte er kichernd, »du bist nicht nur wunderschön, sondern auch süß. Ich wusste, dass du in mich verliebt bist. Daran bestand kein Zweifel.«
Yuna zog scharf die Luft ein – sie konnte nicht glauben, dass er so etwas unverschämtes sagte. Aido lächelte sie an und nahm das Geschenk entgegen.
»Vielen Dank, meine Süße. Ich werde an dich denken, wenn ich von deinem Schokotörtchen esse«, fügte er mit einem so verführerischen Unterton hinzu, der Yuna eiskalt den Rücken hinunterlief.
Als er sie dann wieder auf dem Weg alleine ließ, konnte Yuna endlich wieder aufatmen. Dieser Typ strapazierte ihre Nerven bis aufs Höchste!
»Jetzt verstehe ich es«, hörte sie Agatha hinter sich sprechen, die endlich mal aus ihrem Versteck herauskam und sich nun zu Yuna gesellte.
»Was?«, entgegnete sie gereizt.
»Du kannst in seiner Gegenwart nicht sprechen.«
»Ich verstehe nicht einmal, warum ich mich wie eine Idiotin verhalte. Er denkt bestimmt, dass ich nicht anders bin als die Day-Class Schülerinnen«, aber ihr war es doch egal gewesen, wie er über sie dachte, Herrgott nochmal! Yuna durfte das nie vergessen!
»Oh mein Gott«, quietschte Agatha plötzlich, »Hayomi Yuna, du bist verliebt!«
Jetzt fing sie auch noch damit an...
»Unsinn!«
Doch Agatha lächelte sie daraufhin nur noch breiter an.
»Ich bin nicht verliebt!«
Das verdammte Grinsen konnte sie sich schnell wieder abschminken, doch sobald Agatha sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es nur allzu schwer, sie von ihren Gedanken wieder abzubringen. Aber was hätte Yuna schon ausrichten können? Immer wieder redete sie sich ein, dass sie ihn nicht leiden könnte, aber in Wahrheit verspürte sie eine innerliche Sehnsucht, die immer größer wurde und sich auszubreiten schien. Noch diese Nacht stellte sie sich die Frage, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, ihm ein Geschenk zu machen, wo er sie doch so rücksichtslos verletzte. Yuna konnte ihm die Wahrheit nicht anvertrauen, da sich seine Absichten über die Jahre geändert haben könnten, denn... er hatte sich sehr verändert und sie konnte seine Abneigung auf die Menschen bis in ihre Seele spüren, sobald er von ihnen umgeben war. Aber ihr gegenüber hatte er nichts dergleichen zu erkennen gegeben; vielleicht tat er das auch nur, um ihr erneut eine Falle zu stellen. Yuna musste wachsam bleiben.
Letztendlich entfuhr ihr ein leidvoller Seufzer. Es wäre alles so viel leichter gewesen, wenn man die Gefühle auf Knopfdruck abschalten könnte. Yuna verspürte eine innere große Angst vor Vampiren, sobald sie die roten Augen und die Reißzähne sah. Wenn Aido in ihrer Nähe war, kam kein Wort über ihre Lippen und sie führte sich am Ende auf wie die letzte Idiotin. Agatha hatte erneut Recht behalten, denn obwohl Yuna sich mehrmals einredete, Aido nicht leiden zu können, verleugnet sie sich letztendlich selber: In seiner Gegenwart konnte sie nicht sprechen und ihm kaum in die Augen schauen. Und obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, machte sie ihm das Geschenk, weil der tiefste Winkel ihres Herzens, der über die vielen vergangenen Jahre schlief, wieder erweckt wurde. Und dieser Teil fing an, sich in ihn zu verlieben.
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Ich werde dir folgen, bis ans Ende der Welt ♡
FanfictionAsuna alias Yuna lebte bei einer Familie, die aus adligen Vampiren bestand. Sie selbst aber war nicht als Level-B, sondern als Mensch mit besonderen Fähigkeiten geboren. Solche "Wesen" nannte man Shurshio. Vampire fürchteten diese Wesen, da ihre Fäh...