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Camille wachte auf. Die Vampirin lag auf einem weichen Bett mit hellblauem, hochwertigem Überzug. Glücklicherweise waren die Vorhänge zugezogen, denn unter einem dünnen Spalt drang Sonnenlicht in den Raum ein, das Camille sonst erbarmungslos verbrannt hätte. Sie fürchtete sich vor wenig, nur die Sonne sah sie als ernsthaften Feind an.
Camille brauchte sich nicht groß umzusehen, sie wusste bereits wo sie war. Das hier war das Haus ihrer kleinen Schwester Angeline, die genau wie ihre verstorbenen Eltern in einer vornehmen, teureren Gegend von Paris wohnte. Ausnahmslos alles hier war perfekt gepflegt und teuer gewesen.Bei Camilles Verwandlung in einen Vampir war Angeline ein kleines Kind gewesen. Heute jedoch war sie bereits erwachsen, wusste aber immer noch nicht, wieso ihre Schwester all die Jahre lang äußerlich nicht gealtert war.
Ja, sie war ein Vampir. Schon als Mensch hatte sie nicht zu der offenen, freundlichen und zugänglichen Sorte gehört, aber als Vampir war das noch schlimmer geworden. Dort wo einst ihr Herz geschlagen hatte, war nun Stille. Sie war tot und hatte wortwörtlich ein Herz aus Stein. Es schlug nicht. Es würde nie wieder schlagen.Camille stand auf. Sie stellte sich vor dem Spiegel und musste erst einmal zurückdenken, was denn am vorigen Abend geschehen war und vor allem wieso sie ausgerechnet im Haus ihrer Schwester war.
Ein dünnes Blutrinnsal war an ihrem Mundwinkel und lief ihr übers Kinn. Auch ihr einst vornehmes, hellblaues Kleid wurde von dunklen, roten Flecken getränkt.
Ihre dunkeln Haare hatten sich aus der Frisur gelöst, was für sie überhaupt nicht ging, weshalb sie schnell die unzähligen Klammern entfernte, die die langen Haare auf ihrem Kopf hielten. Danach sah es schon viel besser aus.
Doch ehe Camille sich auf die Suche nach Wasser gemacht hatte, um das Blut vom ihrem Mund und teilweise von ihrem Kleid entfernen, öffnete sich die Tür.Angeline, gefolgt von mehreren Männern trat herein.
Sie wirkte nicht einmal entsetzt, Camille so zu sehen, so voller Blut.,
Doch was die junge Vampirin viel mehr beunruhigte, waren die Männer. Es waren Schattenjäger, allesamt verziert mit dunklen Runenmalen.Camille hatte ihre kleine Schwester lange nicht gesehen, doch irgendwie wusste sie, dass Angeline sie nicht umsonst hergebracht hatte. Es war aus einem bestimmten Grund geschehen.
„Angeline, was für eine nette Überraschung", sagte sie zu ihrer Schwester, jedoch blieb ihre Stimmt kühl und distanziert wie eigentlich immer und das Wiedersehen mit ihrer Schwester sah sie mit gespaltener Meinung entgegen.
„Weißt du...", sagte Angeline und ging ein paar Schritte um sie herum. „Ich wusste schon immer, dass etwas mit dir nicht stimmt. Seit zwanzig Jahren siehst du genau gleich aus und deine Haut ist so bleich, dass man meinen kann, du wärst noch nie in der Sonne gewesen."
Beim Wort 'Sonne' sah Camille auf. War das etwa das Stichwort? Wusste Angeline, dass sie ein Vampir war und die Schattenjäger, waren sie deshalb hier.
„Früher habe ich dich bewundert, weißt du. Du warst die tolle große Schwester, wenn auch nicht die netteste. Heute aber weiß ich es besser. Du bist ein Monster, eine blutsaugende Bestie. Der Teufel hat dein wahres Ich hervorgeholt. Gestern Nacht, da hab ich dich gesehen."Gestern Nacht. Ja, gestern Nacht war Camille in Paris unterwegs gewesen. Sie hatte drei Tage nichts mehr gegessen und als sie einen Mundie verletzt in einer schmutzigen, dunklen Seitengasse gefunden hatte, hatte sie nicht wiederstehen können und sein Blut getrunken. Dann war sie aufgestanden und im nächsten Moment niedergeschlagen worden. Genau, daran konnte sie sich jetzt auch wieder erinnern. Also waren die Schattenjäger wirklich deshalb anwesend.
Doch sie blieb gelassen und ignorierte die Nephilim gekonnt, lachte sogar leise.
Sie ging auf Angeline zu und strich ihrer Schwester über die Wange.
„Ach Angeline... Du bist so jung, so unwissend. Du hast dich mit den falschen verbündet. Die Nephilim sind kein Stück besser als die Unterweltler. Sie verstecken sich nur hinter dem Gesetz."
Doch Angeline schlug ihre Hand weg. Camille war das egal. Sie lachte nur lauter.
„Ich habe die Nephilim vor ein paar Monaten getroffen. Sie haben gesagt, ich hätte das zweite Gesicht. Deswegen kann ich sehen, was du wirklich bist."
Sie hatte damit nicht gerechnet. Angeline hatte das zweite Gesicht? Das kam in der Tat unerwartet. Doch Camille ließ sich deshalb nicht aus ihrer Rolle bringen. Sie sah sich selbst im Spiegel. Das Kleid war blutverschmiert, genau wie ihr Hals und ihr Kinn. Das sah tatsächlich nicht unverdächtig aus.„Ach Angeline. Du kannst mich nicht aufhalten. Nicht mit deinen Nephilimfreunden."
Angeline Belcourt, ihr einzig übriges Familienmitglied, sah auf einmal nicht mehr so begeistert aus. Tatsächlich glaubte Camille Tränen in ihren Augen zu erkennen.
„Es tut mir so Leid, Schwesterchen, aber du hast gegen das Abkommen verstoßen. Du bist nicht mehr die, die du früher warst. Du bist ein Monster geworden."
Blitzschnell drehte Camille sich um. Ohne es zu kontrollieren schossen ihre Fangzähne hervor. Genau in dem Moment, als der Schattenjäger den Vorhang zur Seite zog, hastete sie mit Vampirgeschwindigkeit aus dem Sonnenlicht, das nun durchs Fenster fiel. Als etwas davon ihre Hand berührte, fauchte sie in Angelines Richtung und zog die Hand schnell zur Seite.Diese riss entsetzt die Augen auf. Offenbar hatte sie nicht erwartet, ihre Schwester so zu sehen.
Camille wusste nur eins. Sie musste hier weg.
Also packte sie einen Nephilim, der nicht im Sonnenlicht stand am Handgelenk und zog ihn zu sich. Ihre Zähne verharrten kurz vor seinem Hals.
„Schließt den Vorhang oder ich töte ihn", fauchte Camille. Nun war es gleichgültig, wie Angeline sie sah. Sie würde sie sowieso auf ewig hassen.
Die Nephilim zögerten und schauten zu Angeline. Sie musste überraschend viel Einfluss auf sie haben dafür, dass sie eigentlich nur ein Mundie war.
„Madame Belcourt, es ist Ihre Verantwortung was geschieht", sagte eine Nephilim mit langen schwarzen Haaren und blauen Augen. Camille erkannte sie. Es war Katherine Lightwood, eine Schattenjägerin, die ihr Auslandsjahr im Pariser Institut machte.
„Camille...", begann Angeline und sah sie bittend an.
Doch Camille schüttelte nur fauchend den Kopf. „Schließt den Vorhang oder er ist tot", wiederholte sie.
Angeline nickte dem Nephilim zu. Katherine ging zum Vorhang und schloss ihn, sodass der Raum in Dunkelheit lag.
„Und jetzt verschwindet. Ich will keinen von euch hier sehen. Bei Sonnenuntergang lasse ich euren kleinen Nephilimfreund hier frei und gehe. Wenn einer irgendwelche Tricks versucht zeige ich die Seite, die sowieso nur alle an mir sehen. Ich zeige euch, was für ein Monster in mir steckt."Sie funkelte ihre Schwester wütend an. „Von dir hatte ich mehr erwartet. Und jetzt nimm deine Freunde und geh. Ich will dich nie wieder sehen, Angeline."
Es tat Camille auch irgendwie Leid. Angeline war ihr einzig übriges Mitglied der Familie und nun verstieß sie sie. Sie liebte Angeline, aber nun war selbst sie zu weit gegangen.
Deshalb sah sie zu, wie ihre Schwester ihr einen traurigen Blick zuwarf und mit den Nephilim schweigend den Raum verließ.Und Camille ließ sie für immer in Glauben, dass sie keine andere Seite an sich hätte, als die des Monsters, die Angeline erstmals in ihr gesehen hatte. Camille erfuhr am achten Februar 1600, dass ihre Schwester gestorben war. Zu dieser Zeit hielt sie sich in einem hochwertigen Pariser Vorort auf. Am selben Tag noch bereute sie es, dass sie sich niemals mehr mit ihrer Schwester getroffen und die Sache geklärt hatte. Sie wäre lieber in Frieden mit ihr auseinandergegangen.
Nun würde es nie wieder eine Gelegenheit dazu geben, mit Angeline zu reden.