Jᴇssᴀ ➰ Eʀɪɴɴᴇʀᴜɴɢᴇɴ

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Jedes Jahr traf sie sich mit ihm auf der Brücke. Jedes Jahr am selben Tag. Jedes Jahr am selben Tag zur selben Zeit. Zwar war Jem ein stiller Bruder geworden, aber er war der einzige ihrer alten Freunde, der noch am Leben war und sie freute sich jedes Jahr auf diesen Tag. Und Jem war kein normaler stiller Bruder. Sein Mund war nicht zugenäht und obwohl er sich nur in Gedanken verständigte, fand Tessa ihn noch genauso attraktiv wie früher. Die weißen Haarsträhnen, die für gewöhnlich aus seiner Kapuze hingen färbten sich Jahr für Jahr wieder dunkler. Die letzten Überreste des Yin Fens. Jems Haar schien sich wohl im Laufe der Jahre davon zu erholen.

Doch dieses Jahr war alles anders. Als Tessa pünktlich auf der Brücke stand und auf Jem wartete, kam niemand. Sie setzte sich ans Geländer und las ein Buch. Nicht ungewöhnlich für einen etwas kühleren, windigeren Tag im September, doch ab und an wurden ihr schon ein paar Blicke zugeworfen. Mit jeder Minute die verstrich, machte Tessa sich mehr Sorgen um ihren besten Freund und Wills ehemaliger Parabatai. Er kam nie zu spät. Anrufen konnte man die stillen Brüder nicht. sollte sie in die City of Bones gehen und nachsehen?

„Tessa!", rief eine laute Stimme am anderen Ende der Brücke. Jems Stimme, aber das konnte nicht sein. Er war doch nun Bruder Zachariah und konnte nicht reden. Doch Jem sprach nicht in ihren Gedanken, die Worte waren eindeutig aus seinem Mund gekommen. Sofort legte Tessa das Buch zur Seite, sprang auf und rannte auf Jem zu. Ihr leichtes, hellblaues Sommerkleid flatterte dabei im Wind und als sie sich ihm in die Arme warf, fiel ihr noch mehr auf, dass sich an Jem verändert hatte. Statt der Robe der stillen Brüder trug er Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Kein ungewöhnliches Outfit, doch sie hatte Jem selbstverständlich noch nie in einer Jeans gesehen. Außerdem lächelte er und wirkte... Anders.

„Jem, was ist los mit dir?", fragte Tessa und starrte ihn perplex an. Erst jetzt fiel ihr die antike Geige in seiner Hand auf. Es war noch immer die Geige von früher, auf der er ihr immer vorgespielt hatte.
„Ich bin wieder... Ich. Ich bin kein stiller Bruder mehr", sagte Jem und umarmte sie nochmal. Diesmal länger und Tessa lies es zu, auch wenn sie gerade nur Bahnhof verstand.
„Wie meinst du das?", fragte sie nach und Verwirrung lag in ihrer Stimme. „Man kann nicht aus dem Bund der Brüder austreten, Jem."
„Nein, aber das himmlische Feuer... Es hat mich wieder zu einem Schattenjäger gemacht und mehr noch... Das Yin Fen... Das himmlische Feuer hat mich von der Vergiftung befreit."

Tessa konnte es kaum glauben. Stürmisch zog sie Jem in eine Umarmung und wollte den Schattenjäger nie wieder loslassen. Dieser Tag war einfach nur perfekt. Seit Wills Tod hatte sie keinen Tag mehr erlebt, an den sie so schöne Erinnerungen hatte. Und die Rückkehr ihres Freundes war einfach wunderbar.
„Jem, das ist... Umwerfend. Du bist nicht mehr an die Stadt der Stille gebunden. Du kannst tun und lassen was du willst. Ich kann dir die Welt zeigen."
„Ich würde sie mit niemand anderem sehen wollen", sagte Jem schmunzelnd und legte einen Arm um sie. Sie fühlte sich wohl bei ihm und er wusste es.

„Aber weißt du, was du unbedingt machen musst? Was ich immer vermisst habe?", fragte Tessa nach und sah zu ihm auf. Jem schüttelte den Kopf und die Hexenmeisterin fuhr fort.
„Früher, wenn ich abends ins Institut gegangen bin oder nachts aufgewacht, da habe ich dich spielen gehört. Egal was du gespielt hast, es war wunderschön. Du kannst dich sicher noch daran erinnern, wie ich in dein Zimmer gekommen bin. Immer wieder."
Jem nickte. „Natürlich erinnere ich mich. Ich habe gerne nur für dich gespielt."
Tessa lächelte ihn an. „Und für Will", meinte sie ein wenig traurig.
Jem senkte den Kopf. Der Tod seines Parabatai beschäftigte ihn offensichtlich noch genauso sehr wir Tessa den Tod ihres Mannes bedauerte. Doch Will Herondales Leben war schön gewesen, das wusste sie. Genau wie Charlotte, Henry, Gabriel, Gideon, Sophie, Jessamine und Cecily ging es ihm gut dort, wo er und die anderen jetzt waren. Natürlich dachte Tessa noch oft an ihre alten Zeiten im Londoner Institut. Sie vermisste es einfach, ihre erste richtige Familie verloren zu haben und dachte umso mehr an sie. Genau wie sie an ihre Kinder Lucie und James Herondale dachte, wo auch immer sie nun waren.

„Kannst du etwas für mich tun, Jem?", fragte Tessa nun, die überrascht feststellte, dass Jem eine Träne über sein Gesicht rollte. Er dachte an Will. Vielleicht auch daran, wie er das letzte Mal Geige gespielt hatte, neben Wills leblosem Körper.
„Alles was du willst, Tessa Gray."
„Spiel für mich, für Will, für unsere Familie aus London, die heute nicht mehr hier ist."
Jem zögerte, doch dann ließ er sie los und ging ein wenig die Brücke entlang bis zu deren höchsten Punkt. Er setzte die Geige an und begann zu spielen. Die Melodie kam Tessa so vertraut vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie nachts durchs Institut streifte und ihn spielen hörte. Jems Augen waren geschlossen. Er genoss jeden Augenblick seines Spiels. Genau wie sie. Die Musik erinnerte sie an der vergangenen Zeiten mit Will und Jem. Sie sah sich in und Will, tanzend und Jem in einer dunklen Robe. Sie sah die beiden Parabatai kämpfen, beim Abendessen im Institut oder beim Tee mit Charlotte. Ihre Gedanken wanderten zu Jems Heiratsantrag, zu ihrer tatsächlichen Hochzeit mit Will und zu dem Tag, als Wills Parabatairune verblasste. Sie sah Jem auf dem Boden liegen, leblos. Und doch stand er vor ihr und spielte das schönste Lied der Welt.

Als er endete standen mehrere Londoner im Kreis versammelt um die beiden, doch Tessa hatte nur Augen für Jem. Sie ging zu ihm hinüber.
„Das war wunderschön. Danke", murmelte sie mit einer Träne in den Augen.
„Es hat mich an etwas erinnert. An die schönste Zeit und zugleich dunkelste Zeit meines Lebens", murmelte Jem leise und strich ihr die Träne aus dem Gesicht, obwohl er doch selbst weinte. „Ich denke Will hat zugehört."
„Ich denke wir sind immer noch ein unschlagbares Team", meinte Tessa leise.
„Ich denke ich liebe dich immer noch, Tessa. Und mein Parabatai wird immer mit uns kämpfen, auch wenn wir ihn nicht sehen. Bereit für ein neues Abenteuer?"
Tessa nickte. „Aber immer."

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