Kapitel 1

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Obwohl sie mich diesmal nicht auspeitschte, fiel ihre Strafe schlimm genug aus. Eine Woche lang nichts zu Essen. Es ist nicht so, dass ich wirklich viel zu essen bekomme, doch gar nichts? Aber es herrscht Krieg. Ich sollte froh sein, dass ich überhaupt noch essen kann. Traurig denke ich über die heimatlosen, unschuldigen Seelen nach, die sich bei dieser Kälte herumschlagen müssen.  

Meine Mutter hatte mich schon wieder geschlagen. Sie schlägt mich nicht oft, aber dafür packt sie gerne mit der Peitsche zu. Manchmal kann ich kaum gerade gehen, aber ich muss stark bleiben, so wie ich es Dad versprochen habe, als er zur Marine ging.

Meine Hände zittern aufgrund der Erinnerung wie ein Polizist vor unserer Haustür stand und uns die Nachricht von seinem Tod brachte. Seitdem ist alles den Bach hinunter gegangen. Mom ist wütend und verbittert geworden. Wir mussten Hausangestellte entlassen, da wir sonst nicht mehr über die Runden kommen würden. Also bleibt alles an mir hängen.

,,Evangeline! Wo ist das Essen? Komm sofort her!", schreit Mom durchs Haus. Seufzend stehe ich von dem unbequemen Stuhl in der Küche auf, auf dem ich kurz Rast gemacht habe und bringe meiner Mutter das Essen. Wie immer sieht sie mich hasserfüllt an, wenn überhaupt. Meistens sieht sie mich gar nicht mehr an. Und jedes Mal bricht eine Mauer in mir ein weiteres Mal zusammen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchstehen soll.

Wie immer trägt sie ihr elegantestes Kleid. Sie will nie zugeben, dass es uns schlecht geht. Das wäre in ihren Augen ein Zeichen von Schwäche. Ihre schwarzen Haare hat sie zu einem festen Knoten zusammen gebunden. Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich. Ich habe dunkelblonde Haare und braune Augen, während Mutter nur mit giftgrünen zurück starren kann. Geschickt stelle ich den Teller vor ihr ab und wende mich ab.

,,Evangeline! Du gehst danach noch einkaufen! Und danach wirst du dem kleinen Jungen von Mrs. Scrubb wieder Nachhilfe geben! Du kannst schließlich nicht die ganze Zeit hier herumhocken und nichts tum!", blafft sie, worauf ich nur schwer ein Seufzen unterdrücken kann. 

Eustachius Scrubb. Die einzige Person, mit der ich noch regelmäßig rede, obwohl es bloß um Hausaufgaben geht. Manchmal freue ich mich auf die Besuche, auch wenn er dann entweder nervt oder ununterbrochen von Kräutern oder Pflanzen redet, während ich schweigend daneben sitze und so tue als ob ich irgendetwas davon verstanden hätte.

Meine blonden Locken binde ich schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen, bevor ich auf mein Fahrrad steige. Obwohl es kalt ist, freue ich mich in die Stadt zu kommen, auch wenn das heißt, dass ich lachen soll, damit jeder denkt, wir würden nicht bald bankrott werden. Ich freue mich, so gemein es auch klingen mag, weil ich dann meine Ruhe vor meiner Mutter habe. Ich liebe sie, ohne Frage. Aber manchmal habe ich auch Angst vor ihr. 

Im Zentrum angekommen steige ich von meinem Rad ab und schiebe es, da heute ziemlich viel los ist. An den Wänden sitzen vereinzelt Bettler mit zerfetzten Klamotten und abgemagertem Gesicht. Schnell ziehe ich einen großen Beutel hervor, den ich vor meiner Mutter versteckt habe. In dem Beutel befinden sich alte Kleidung und älteres Essen. Leider habe ich nicht das Geld ihnen etwas warmes zu kaufen, aber ich versuche ihnen zu helfen.

Mit bestimmten Schritten gehe ich auf eine obdachlosen Gruppe zu, welche mich mit dankbarem Lächeln begrüßen, da ich ihnen einmal die Woche etwas mitbringe. Den Beutel gebe ich dem ältesten, da ich mir sicher bin, dass er die Sachen gerecht aufteilen wird. Sein Name ist Hearth. Obwohl er taubstumm ist, hat er den 'Führungsposten' bekommen. Sie bedanken sich überschwänglich, aber ich kann leider nicht lange bleiben, weil Mutter es sonst auffallen würde.

 Also erledige ich schnell die Einkäufe und verstaue diese sicher in meinen Fahrrad Korb.
Wieder zu Hause angekommen bin ich überrascht, dass Mom nicht zu Hause ist, sonst hätte sie mir schon die nächsten Aufgaben aufgehalst. Doch anscheinend ist sie wieder auf ihre übliche Sauftour gegangen. Das bedeutet, dass sie noch härter zuschlägt als sonst.  Seufzend räume ich die Einkäufe weg und beginne das Haus zu putzen. Danach repariere ich die kaputte Schranktür im Zimmer meiner Mutter und stelle mich dann der schwierigsten Aufgabe: Wäsche waschen. Kurz blicke ich zur Uhr. Wenn ich mich beeile, könnte ich fertig werden bevor Mom nach Hause kommt und noch pünktlich zu Eustachius gehen. Bedacht darauf meinen Rücken wegen den Schmerzen nicht all zu sehr zu bewegen mache ich mich an die Arbeit.

Stöhnend hänge ich die nasse Wäsche auf die Wäscheleine. Danach räume ich wieder auf und gehe in mein Zimmer. Obwohl. Zimmer kann man es nicht mehr nennen. Ein kleines und viel zu kurzes Bett steht in dem vielleicht 8 Quadratmeter großen Raum. Eine einzige Kommode steht in der Ecke gegenüber. Darüber hängt ein kleines Bücherregal. Und über meinem Bett hängen ein paar Bilder von meinem Vater und mir. Ich sehe ihm sehr ähnlich. Deswegen sieht Mutter mich wahrscheinlich nicht an. Ich erinnere sie an ihn. Sein Lachen. Seine Nase. Alles erinnert an ihn. Seufzend schäle ich mich aus dem dreckigen Kleid. Im Badezimmer betrachte ich die Einschnitte der Peitsche auf meinem Rücken und fühle wie Tränen in meine Augen treten. Tief im Inneren hoffe ich darauf, dass ein Wunder geschieht. Dass Mom wieder die Alte wird. Dass ich kein Leben voller Angst führen muss. 

Ich ziehe das einzig schöne Kleid, das ich besitze, aus dem Schrank und betrachte es ehrfürchtig. Es ist in einem zartem Gelb gehalten und Blumen schmücken es. Zum Glück verdeckt es meine Narben am Rücken, doch es ist eng, sodass es schmerzen würde. Also ziehe ich es mit Bedacht drüber. Sanft fällt es hinunter. Meine blonden Locken lasse ich mir wieder um die Schultern fallen, da sonst einige Narben zum Vorschein kommen würden. 

Wenige Häuser entfernt stehe ich nun vor der Haustür der Familie Scrubb. Sie hatten schon immer genug Geld was man auch sehen konnte. Ihre Veranda war schön weihnachtlich geschmückt und es war kein einfaches schlichtes Haus. Jedenfalls von außen. Erfreut meinen einzigen Freund wieder zu sehen, drücke ich auf die Klingel. Nervös tippe ich mit dem Fuß auf dem Boden. Nur wenige Sekunden später wird die Tür geöffnet und Mrs. Scrubb steht fröhlich davor. 

,,Ach Evangeline! Schön dich wieder zu sehen! Eustachius ist oben. Du kennst den Weg bereits.", rasselt sie fröhlich und zieht mich in den Flur hinein. 

Lost Souls/Edmund PevensieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt