Kapitel 6

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Evangeline:

Mühselig rapple ich mich aus dem Bett. Durch die Fenster scheint das Licht der Sonne, welche erst vor wenigen Minuten aufgegangen ist. Leise, um Lucy nicht zu wecken, ziehe ich mir meine Nachthemd aus. Darauf bedacht meine Narben und aufgewetzten Wunden zu schonen, ziehe ich die Sachen an, die mir gestern gegeben wurden. Auf einer Kommode liegt glücklicherweise ein kleiner Kamm, mit dem ich meine Haare zuerst entknote und dann zu einem feinen Zopf flechte. 

Ich schlüpfe in das sportliche Paar Schuhe, das mir Lucy gestern gegeben hat. Kurz sehe ich zu ihr, um sicher zu gehen, dass sie noch schläft. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus dem Raum und steige die Treppen hinauf auf das Deck des Schiffes. Obwohl es noch etwas kühl ist, setzte ich mich an den Bug und sehe der Sonne zu, die immer weiter höher steigt. Ich war schon immer ein Frühaufsteher. Früher, als mein Vater noch lebte und er schon vor Sonnenaufgang zur Arbeit musste, um Geld einzutreiben, bin ich immer zu ihm gegangen, um mich zu verabschieden. 

Gedankenverloren taste ich meinen Hals nach der vertrauten Kette ab, welche ich mir von meinen Ersparnissen gekauft habe. Traurig öffne ich die schlichte Kette und sehe mir das Bild meiner Eltern an, welches ich hinein gelegt habe. Das Bild wurde an dem Tag ihrer Hochzeit geschossen. Sie waren so verliebt ineinander. Mutter liebt ihn immer noch. 

Das ist eine der einzigen Sachen, die sich seit Vaters Tod nicht geändert haben. Mutter hätte erneut heiraten können, sodass wir ein sicheres Einkommen hätten, aber sie tat es nicht und deshalb hatte ich auch noch Hoffnung. Hoffnung, dass sie mich auch noch so liebte, wie zuvor. 

,,Guten Morgen, Evangeline.", begrüßt mich eine bekannte Stimme. Fröhlich drehe ich mich um und entdecke Kaspian, welcher aussah, als wäre er schon längere Zeit wach. 

,,Morgen, Kaspian!", erwidere ich fröhlich, ,,Das Meer ist wunderschön, nicht wahr?" Lachend sieht er es an. 

,,Du hast recht. Ich habe schon einige Tage auf diesem Schiff verbracht, ohne zu bemerken, welch faszinierende Sachen Aslan erschaffen hat.", antwortet er nachdenklich. Erneut überkommt mich die Wärme wie schon am Vorabend, als ich mit Lucy über ihn gesprochen habe. 

,,Willst du nicht etwas essen?", fragt er plötzlich fürsorglich.

,,Ich habe gerade keinen Hunger. Ich werde später etwas essen. Weißt du etwas von Eustachius?" 

,,Er ist erst vor wenigen Minuten zu sich gekommen. Willst du zu ihm?"

,,Später, ja.", antworte ich ehrlich, ,,Jetzt will ich aber erst noch hier sitzen." 

,,Ist dir nicht etwas kalt?", fragt er langsam. 

,,Ein bisschen.", antworte ich wahrheitsgemäß und wenige Momente später wirft Kaspian eine dünne Jacke über meine Schultern. 

,,Danke.", sage ich, als sich Kaspian mit einem Nicken in die Kombüse verzieht. Eine Weile sehe ich wieder auf das Wasser. Ich schließe meine Augen und lausche dem Geräusch. Es macht mir sowohl Angst als auch Mut, wenn ich daran denke, dass mein Vater mit diesem Geräusch gestorben ist. 

,,Woran denkst du?", reißt mich plötzlich erneut eine Stimme aus meinen Gedanken. Verwirrt blicke ich neben mich und sehe Edmund, der mich verwundert anblickt. 

,,An meinen Vater.", antworte ich ehrlich. Glücklicherweise scheint Edmund nicht weiter auf das Thema eingehen zu wollen, da er seinen Blick auf mir ruhen lässt. Jedoch hält er mir einen gefüllten Teller mit Lebensmitteln hin, den ich dankbar annehme. Kurz sehe ich ihn mit einem fragenden Blick an.

,,Wieso bist du so nett zu mir? Natürlich beschwere ich mich deswegen nicht, aber gestern-", frage ich verwirrt, doch werde von ihm unterbrochen. 

,,Gestern hatte ich einfach einen schlechten Tag.", murmelt er, doch ich bin noch immer nicht überzeugt von ihm. 

,,Einen schlechten Tag? Du bist nach keine Ahnung wie vielen Monaten oder Jahren wieder nach Narnia gekommen. Wie könntest du dann einen schlechten Tag haben?", frage ich misstrauisch. Kurz lässt Edmund seine Schultern sinken, richtet sie nach kurzem Seufzen wieder in seine ursprüngliche, königliche Haltung. 

,,Du hast recht. Für mein Verhalten gestern will ich mich bei dir entschuldigen. Ich war einfach misstrauisch dir gegenüber.", erklärt er und sieht mich abwartend an, während ich schon anfange zu essen. 

,,Ich verzeihe dir. Jeder hat eine zweite Chance verdient.", lache ich, worauf sich auf Edmunds Gesicht ein Grinsen abbildet, ,,Eine Frage hätte ich aber noch: Wieso hast du mir Essen mitgebracht?"

,,Ich war schon unten in der Kombüse, als Kaspian kam und erzählt hat, dass du hier bist. Da er auch sagte, dass du später nach unten kommen würdest, um zu essen, dachte ich mir, dass das der perfekte Moment wäre, um mich bei dir zu Entschuldigen.", antwortet er und sieht wieder auf das Meer hinaus. 

,,Wieso wolltest du gestern eigentlich zu Eustachius?", fragt Edmund nach einer Weile versucht beiläufig, aber ich kann die Neugier aus seiner Stimme heraushören.

,,Eustachius und ich wohnen in derselben Straße. Wir kennen uns eigentlich schon unser ganzes Leben lang, aber richtig Freunde geworden sind wir erst, als ich ihm Mathe Nachhilfe geben musste.", erzähle ich grinsend. Eustachius hatte sich geweigert mit mir zu lernen, bis ihn Mrs. Scrubb angedroht hatte, seine kompletten Sammlungen wegzunehmen. Seitdem sind wir irgendwie Freunde geworden. 

,,Was war eigentlich gestern? Du warst in einer Schockstarre. Lucy hat später auch erzählt, dass du Schmerzen am Rücken hättest.", fragt er vorsichtig und berührt mich leicht mit seinen Fingerspitzen am Arm. Fast sofort richte ich meinen Rücken gerade hin, um ihn nicht im Glauben zu lassen, dass mir etwas Schmerzen bereiten würde. Nervös falte ich meine Hände, als ich mich daran erinnere wie nah er mir gewesen ist. 

,,Du bist ziemlich neugierig, oder?", frage ich in der Hoffnung, Edmund ablenken zu können. Dieser jedoch geht nicht auf meine Bemerkung ein und zieht abwartend eine Augenbraue hoch. 

,,Weiche nicht der Frage aus, Evangeline.", sagt er ernst, ,,Hast du irgendwelche Schmerzen? Woher?" Von meiner Mutter.

,,Das geht niemanden an.", antworte ich kühl und schaue auf seine Hand, welche immer noch an meinem Oberarm ruht. Edmund verstärkt seinen Griff um ihn jedoch, sodass ich nicht die Möglichkeit habe, wegzulaufen. Das wäre auf einem Schiff auf dem Meer mit einer Angst vor Wasser auch nicht wirklich meine erste Möglichkeit gewesen, die ich in Erwägung gezogen hätte.

,,Wir wollen dir nur helfen.", sagt Edmund ruhig, doch ich erwidere seinen Blick nicht.

,,Majestät. Evangeline. Entschuldigt bitte die Störung meinerseits, aber der Junge Eustachius wünscht ihre Anwesenheit und drohte, das Schiff zu kentern, wenn er weiterhin hier gefangen gehalten werde.", unterbricht uns eine belustigte Stimme und überrascht sehe ich Reepicheep an der Reling stehen, während er sich vor uns (eher gesagt vor Edmund) verbeugt. 

,,Danke, Reepicheep. Evangeline? Wir reden später weiter, okay?", sagt Edmund, doch man kann den gebieterischen Unterton heraushören. Dann erhebe ich mich und folge dem Mäuserich ins Innere des Schiffes. 

Lost Souls/Edmund PevensieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt