Kapitel 10

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Mit einem dumpfen Geräusch stößt das Boot an dem kleinen Steg an. Kein einziges Geräusch war von dem Inneren der Mauern zu hören. Fasziniert von der Architektur bemerke ich zuerst nicht, dass Edmund mir die Hand hinhält. Peinlich berührt nehme ich sie dankend an und steige -mit wenig Eleganz- aus dem Boot auf die Stufen. Eustachius hingegen will keine Hilfe und fällt daraufhin mit dem Körper auf die Stufen. Doch auch diesmal nimmt er meine Hilfe nicht an und hievt sich hoch. Währenddessen haben Kaspian und Lucy sich schon ein wenig erkundet. 

,,Evangeline. Du kommst mit uns. Wenn wir bis zum Morgengrauen nicht zurück sind, dann sendet einen Suchtrupp aus.", befiehlt er Reepicheep und Drinian, welche daraufhin nicken. Da Eustachius sich geweigert hat, mich 'alleine' zu lassen, kommt er mit uns. Nun gehen wir alle leise in Richtung der riesigen Mauern. Im Innenhof angekommen suchen die vier an einer großen Eingangstür nach Hinweisen, während ich durch die geschlossenen Fensterläden blicke. Ein hübsches Mädchen kauert dahinter. Mit ihren Armen hält sie ein kleines Bündel an sich. Leise Baby schreie sind zu hören.

Als ich es gerade fragen wollte, wieso sie sich versteckt, hallt ein hoher Schrei durch den Hof. Blitzschnell drehe ich mich um und erblicke wie ein älterer Mann Eustachius einen Dolch an die Kehle hält. Geschockt ziehe ich die Luft ein und sehe machtlos zu wie der Mann meinen besten Freund durch die große Tür schleppt. 

Verzweifelt sehe ich meine Armbrust an. Bevor ich überhaupt nachdenken konnte, packe ich sie fester und renne auf die Eisentür zu, welche nur angelehnt ist. Glücklicherweise kann ich sie reden hören.

,,Ich bin euer König!", schreit Kaspian wütend. Daraufhin ertönt ein Geräusch, von dem man schließen kann, dass er geschlagen wurde. 

,,Dafür werdet ihr bezahlen.", droht Edmund. 

,,Oh nein, dummer Junge. Jemand wird für euch bezahlen.", antwortet der Mann mit bedrohlicher Stimme. Angst kommt in mir auf und mir ist bewusst, dass ich handeln muss. Mit einem lauten Knall stoße ich die Tür auf und halte meine Armbrust an den Mann gerichtet, der Eustachius hält.

,,Lassen sie ihn los.", sage ich und versuche meine zitternde Stimme zu verbergen. Ungerührt lässt er ihn los, worauf Eustachius schnell hinter meinen Rücken huscht. Kaspian und Edmund versuchen hingegen sich unbemerkt ihre Schwerter wiederzuholen, während ich die Ablenkung spielen soll. 

,,So ein mutiges, kleines Mädchen.", flüstert er mit ekelerregender Stimme, worauf ein Schauer meinen Rücken hinunter fährt. ,,Will ihre Freunde retten. Kann aber nicht einmal den Abzug drücken, nicht wahr?" 

Mittlerweile zittern meine Finger so stark, sodass ich nicht mehr richtig zielen kann, doch der Mann tritt immer näher. Ich drücke meine Augen zu und ziehe den Auslöser. Darauf höre ich ein leises Fluchen, worauf es in der Halle still wird. Ich öffne meine Augen wieder und sehe, dass ich dem Mann einen Pfeil in den Unterschenkel geschossen habe.

Plötzlich brüllen seine Kameraden los und greifen Kaspian, Edmund und Lucy an, welche jedoch glücklicherweise ihre Waffen wieder erlangt haben. Trotzdem sind wir in der Unterzahl. Ein Mann greift mich frontal an und ich versuche ihn mit meiner Armbrust abzuwehren. Doch er ist zu stark. Mit einer geübten Bewegung entwaffnet er mich und hält meine Arme hinter meinem Rücken so zusammen, sodass ich mich nicht mehr bewegen kann. Leider sind auch die anderen entwaffnet worden. 

,,Dich.", murmelt der Mann mir zu, dem ich einen Pfeil in den Unterschenkel geschossen habe, ,,Dich werfe ich dem Nebel höchstpersönlich zum Fraß vor! Bringt sie weg!" Plötzlich zerrt mich der Mann hoch, doch meine Aufmerksamkeit gilt nur Eustachius, der in eine andere Richtung geschleppt wird. Auch Edmund ruft verzweifelt nach dem Namen seiner Schwester, doch auch sie wird mit Eustachius woanders hingebracht. 


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Behutsam bette ich Edmunds Kopf in meinen Schoss, um ihn nicht zu verletzen. Die kleine Schüssel voller Wasser, die uns zur Verfügung gestellt wurde, ziehe ich auch zu mir heran. Mithilfe von einem kleinen Stofffetzen, den ich von meinem Hemd heruntergerissen habe, säubere ich seine kleinen Wunden am Kopf. Währenddessen versucht Kaspian die Tür zu unserem Verließ aufzustoßen. Vergeblich. Als ich mit meinem Stofffetzen Edmunds Wunde berühre, reißt er schlagartig die Augen auf, doch entspannt sich wieder, als er mich entdeckt. 

,,Was tust du da?", fragt er neugierig und greift nach dem Fetzen. 

,,Ich säubere deine Wunden. Wenn sich Dreck darin befindet, könnte es sich viel leichter entzünden.", antworte ich peinlich berührt und versuche meine aufkommende Röte zu verbergen. Edmund richtet sich nach einem kurzen Blick zu Kaspian hin auf und sieht mir direkt in die Augen. Schuldbewusst senke ich den Blick und spiele mit dem Saum meines Hemdes. 

,,Sag es ruhig. Du denkst, dass es falsch war, dass ich nicht Hilfe geholt habe und euch stattdessen noch mehr in Gefahr gebracht habe.", sage ich leise und sehe wieder in seine Augen, während meine Finger nervös mit dem Stofffetzen spielen.  

,,Nein. Du hast nur so gehandelt wie es dein Gefühl dir gesagt hat. Ich hätte dasselbe auch für Lucy getan.", antwortet er und steht auf. 

,,Noch dazu war es wirklich mutig und selbstlos, was du getan hast. Eustachius kann sich glücklich schätzen so jemanden wie dich zu haben.", fügt Kaspian hinzu und reicht mir seine Hand, um aufzustehen. Aus reiner Routine fange ich an meine Hose abzustauben, um mich von meinen Rückenschmerzen abzulenken. 

,,Durch die Tür kommen wir nicht durch, oder?", fragt Edmund hoffnungslos. 

,,Durch diese Mauern kommt niemand hindurch.", antwortet stattdessen eine raue Stimme. Vor Schreck springe ich auf und es fühlt sich an als hätte meine Seele meinen Körper verlassen. Trotzdem treten wir neugierig näher.

,,Wer ist da?", fragt Kaspian.

,,Nur eine Stimme.", ertönt sie wieder, doch diesmal tritt ein Mann hinaus. Sein weißes Haar ist fahl und lang. Er muss schon ewig hier eingesperrt sein. Er ist mager und seine Kleidung hängt schlaff hinunter. 

,,Lord Bern?", fragt Kaspian auf einmal. Der alte Mann weicht erschrocken zurück. 

,,Ja das war ich. Ihr aber erinnert mich an einen alten Freund, mein Herr.", antwortet er und blickt Kaspian ins Gesicht.

,,Dieser Mann war mein Vater.", antwortet Kaspian, worauf der Mann sich hinzuknien versucht, doch Kaspian hält ihn auf.

Plötzlich ertönt Geschrei von den Straßen und wir drei hingen uns an die Gitterstäbe, durch die man die Menge erkennen kann. Frauen, Kinder und Männer werden auf Karren gebracht. Man kann Kinder nach ihren Eltern schreien hören.

,,Was geschieht mit ihnen?", frage ich fassungslos.

,,Seht weiter hin.", antwortet der Mann schwach. Wieder richte ich meine Augen auf die Straße. Die Menschen sind mittlerweile auf Boote verfrachtet worden. Die Boote werden hinausgefahren und plötzlich verdunkelt sich der Himmel und grüner Nebel steigt auf. Der Nebel verschlingt die Boote und plötzlich erhellt sich der Himmel wieder. Die Boote jedoch waren verschwunden. Mitsamt den Menschen.   

Lost Souls/Edmund PevensieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt