Kapitel 24

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Evangeline

Schmunzelnd erinnere ich mich an den verwirrten Ausdruck in Edmunds Gesicht, als ich an der Reling zusehe, wie die grüne Insel immer näher kommt. Der blaue Stern schwebt darüber und in nur wenigen Stunden haben wir unser Ziel erreicht. Ich habe ihm nicht die Wahrheit gesagt.

Jedenfalls nicht direkt. Würde ich meine Angst überwinden, würde ich meine Familie verlieren. Das stimmt. Ich habe ihm aber nicht gesagt, dass ich vor meiner Mutter Angst habe. Nicht nur das. Auch vor meinem Vater. Fünf Jahre. Gott allein weiß was in diesen fünf Jahren im Kopf meines Vaters passierte. Er könnte meine Mutter vergessen haben. Mich. Sein Zuhause. Vielleicht will er nicht mehr nach Hause. Vielleicht will er in Narnia bleiben. 

Das ist meine größte Angst. Und ich bin mir sicher, dass ich mich ihr nicht stellen kann. Würde ich meinen Vater verlieren, würde meine letzte Mauer einreißen. Ich wäre verloren und das weiß ich. Als ich auf der Morgenröte angekommen bin hatte ich das Gefühl, dass ich in Lucy, Edmund und Kaspian und natürlich auch Eustachius jemanden gefunden hätte, der mit mir die Mauer um mich soweit aufreißen könnte, dass ich wieder -naja- glücklich sein könnte. Aber seitdem die Hoffnung besteht, dass mein Vater noch leben könnte, existieren auch die Zweifel und Ängste. 

Ich halte meinen Atem an und sehe auf das Meer hinunter. Es ist schwarz und dunkel. Doch der Schein der untergehenden Sonne hinterlässt glitzernde Spuren auf dem Wasser. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal schwimmen war. IFür einen Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich es noch kann. Irgendetwas muss für meinen Vater so faszinierend gewesen sein, dass er sich entschieden hat zur Marine zu gehen. So sehr ich auch nachdenke, ich komme auf keine Lösung. 

,,Er macht seine Arbeit sehr gut, nicht wahr, My Lady?", fragt eine Stimme neben mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Trotz der vorstehenden Herausforderung muss ich schmunzeln, da nur Reepicheep mich so nennt. 

,,Eustachius?", frage ich ihn und sehe auf den großen Drachen vor uns, der das Schiff hinter sich her zieht. Ich nicke. ,,Ohne ihn würden wir nie ankommen. Er weiß gar nicht, wie wertvoll er sein kann."

,,Er muss nur ins kalte Wasser geworfen werden. Dann kommt er als hervorragender Schwimmer wieder heraus.", stimmt Reepicheep mir zu und stellt sich vor mich. 

,,An was denkst du?", frage ich den Mäuserich, der an seinem Schwert spielt. 

,,Eine Nymphe hat mir in meiner Kindheit immer ein Lied vorgesungen. Es handelte davon, dass im Osten Aslans Land liegen würde." 

,,Glaubst du daran?", fragt Lucy nachdenklich, die hinzugestoßen ist. Erschrocken wende ich mich zu ihr, da ich sie nicht kommen sehen habe. 

,,Wenn wir den Glauben nicht haben, besitzen wir gar nichts mehr, Liebes.", beantwortet er Lucys Frage knapp. 

,,Denkst du wir können dort hin segeln?", frage ich weiter, da mich die Neugier gepackt hat.

,,Wenn wir das Böse besiegt haben, vielleicht.", antwortet Lucy. ,,Was ist Aslans Land eigentlich?"

,,Es wird überliefert, dass in dieses Land nur reine Herzen können. Mutige und tapfere Kämpfer. Aber was wahr ist, weiß niemand. Ich denke, das werden wir herausfinden müssen." 

Schweigend sehen wir auf die Insel, die immer größer wird. Doch ich sehe nur dahinter auf den Horizont. Ich versuche mir vorzustellen wie Aslans Land aussehen könnte. Als ich seinen Namen das erste Mal hörte, fühlte ich mich, als wäre ich komplett. Nicht körperlich, aber so als wäre ich Zuhause. Sicher. Als würde er mich wie eine Tochter behandeln. Ich runzle meine Stirn. Es kommt mir so vor, als würde ich meinen christlichen Glauben verraten. Doch irgendetwas sagt mir, dass es genau das Gegenteil ist. 


Eustachius Flügelschläge werden schwächer und verlieren an Stärke. Besorgt sehe ich zu dem Drachen hinauf, in dem immer noch mein bester Freund steckt. Er zieht die Morgenröte schon viele Meilen hinter sich her, doch nun ist die Insel, über der der blau Stern steht, in Reichweite und unmittelbar vor uns. Alles sprüht nur so vor Leben. Wasser stürzt Tonnenweise den Wasserfall hinab. Gestein wird von Efeu umzogen. Auf der Spitze des Berges befindet sich eine Ruine. Auch sie ist komplett von Efeu umwachsen. 

,,Es ist wunderschön.", hauche ich fassungslos, als ich nach oben sehe. 

,,Nicht so schön wie das Mädchen neben mir.", ertönt Edmunds vertraute Stimme. Da ich keine Antwort erwartet habe, wirble ich erschrocken umher und stehe vor einem verlegen grinsenden Edmund. Auf seinen Wangen bildet sich eine leichte Röte, doch ich fange zu lächeln an. Wie selbstverständlich nehme ich seine Hand und ziehe ihn zu mir an die Reling.

,,Dankeschön. Aber diese Insel ist wirklich so faszinierend. Fast als wäre sie verzaubert. Es ist ein großer Kontrast zu den anderen Inseln auf denen wir waren.", antworte ich und spüre wie ich nervöser werde. Einerseits wegen Edmund, andererseits wegen der bevorstehenden Aufgabe. 

,,Wir werden alle Schwerter finden und das Böse aufhalten.", flüstert Edmund und sieht nur mich an. Die Insel vor uns ignoriert er gekonnt. Ich erinnere mich lächelnd an den Abend zuvor, an dem er mich genau so angesehen hatte. Als wäre ich das einzige, das zählt. Als er mich in seinen Armen gehalten hat. Mit seiner Antwort hilft er mir zwar ein wenig, aber meine Sorge bleibt. 

,,Wir sollten zu den Booten gehen.", sagt Edmund und zieht behutsam an meinem Arm. Ich lächle ihn an, doch schüttle den Kopf. Verwirrt sieht er mich an. 

,,Ich nehme ein anderes Transportmittel.", grinse ich herausfordernd und sehe zu Eustachius, der noch immer vor uns fliegt. Fast sofort weiten sich Edmunds Augen und er greift nach meinem Arm, um mich zu sich zu ziehen. 

,,Das ist nicht dein Ernst. Du könntest ins Wasser fallen!", ruft er geschockt. Ich entziehe mich seinem Arm und setzte mich auf die Reling. ,,Du hast doch Angst vor dem Wasser!"

,,Irgendwann muss ich eh wieder schwimmen.", flöte ich und überrasche mich selbst mit meiner Zuversicht, wo zuvor noch Sorge war. Auf Edmunds Gesicht breitet sich ein unwiderstehliches Schmunzeln aus, worauf mein Herz zu rasen anfängt, und er platziert einen Kiss auf meine Haare.  


Lost Souls/Edmund PevensieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt